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Antonie Pannekoek Archives


Abrüstungsfragen / Anton Pannekoek, 1911


Quelle: Sozialistische Klassiker 2.0 ; „Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 84, 8. April 1911, Leitartikel, gezeichnet a.p., und „Leipziger Volkszeitung“, Nr. 82, 8. April, 3. Beilage, mit der Einführung: „Genosse Pannekoek schreibt in seiner Korrespondenz:“ Hervorhebungen nach bb, im letzten Absatz nach lv.


Der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts hat eine ungeheure Steigerung der Rüstungen gebracht, unter deren Last, wie der oft gebrauchte Ausdruck lautet, die Völker zusammenzubrechen drohen. Zweifellos ließen sich die Kosten des Militarismus ohne viel Schwierigkeit aus dem Mehrwert bezahlen, den er zu sichern bestimmt ist. Aber es versteht sich, dass die herrschende Bourgeoisie sie möglichst durch indirekte Steuern den Volksmassen aufbürdet, und daraus entsteht für sie eine neue Sorge. Denn diese bewirken eine steigende Unzufriedenheit der Massen, die sich nur mit Mühe und künstlichen Mittelchen zeitweilig beschwichtigen lässt, und diese Massen scharen sich dann in steigendem Maße um die sozialdemokratische Partei als ihre politische Vertretung. Die Sozialdemokratie erhebt die Forderung der Abrüstung gegenüber dem Militarismus, die Forderung des Friedens gegenüber der Kriegshetze, die Forderung des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus. Sie weist nach, dass das kapitalistische System die Grundursache der Rüstungen und der daraus hervorgehenden Finanznot ist, und dadurch leitet sie den instinktiven Unwillen der Volksklassen gegen die steigenden Steuern und Zölle in das Bett des revolutionären Kampfes gegen den Kapitalismus. Und in Ländern, wo die Sozialdemokratie noch schwach ist, wie in England, bewirken die steigenden Steuern wenigstens, dass die Arbeitermassen sich aus der Gefolgschaft der liberalen Bourgeoisie loszulösen beginnen.

Darin liegt eine Gefahr für die Herrschaft der Bourgeoisie, und es nimmt nicht Wunder, dass viele ihrer Politiker sich die Frage stellen, ob nicht durch ein internationales Abkommen über die Einschränkung der Rüstungen dieser Gefahr Einhalt geboten werden kann. So hat neulich ein englischer Minister sich zu Gunsten eines solchen Abkommens ausgesprochen. Unsere Reichstagsfraktion hat dann an den Reichskanzler die Aufforderung gerichtet, die deutsche Regierung solle Schritte tun, um eine internationale Verständigung in der allgemeinen Einschränkung der Rüstungen herbeizuführen, was der Reichskanzler mit einem glatten Nein und der Darlegung der Unmöglichkeit eines solchen internationalen Abkommens beantwortete. Über diese Stellungnahme der Fraktion ist nun eine Polemik entstanden; die Fraktion wurde dahin kritisiert, dass sie sich auf utopischen Boden stellte, da eine internationale Regelung der Abrüstungsbeschränkung unter der kapitalistischen Herrschaft unmöglich ist, und der Vorschlag daher statt Klarheit über den Kapitalismus kleinbürgerliche Illusionen wecken muss.

Darin hat die Kritik vollkommen Recht. Allerdings wird auch die Kapitalistenklasse selbst durch die Militärlasten, die schließlich auch den Profit drücken, geschädigt. Ein kapitalistisches Land, das sie nicht zu tragen brauchte und alle Kraft der Verbesserung der Produktion widmen könnte, wäre den Konkurrenten in mancher Hinsicht überlegen. Aber wir haben nicht mit einem abstrakten Kapitalismus zu tun, wie er vielleicht sein könnte, sondern mit dem Kapitalismus wie er ist. Ein Kapitalismus lässt sich denken, worin der Wert der Arbeitskraft voll vergütet und die Arbeitszeit auf ein vernünftiges Maß eingeschränkt wird, wo kein Klassenkampf die schönen Profite der Ausbeuter störte. Und so ließe sich auch ein Kapitalismus denken, wo die Nationen im friedlichen Wettbewerb nur mittels der Güte und der Billigkeit ihrer Produkte kämpften und Kriege daher ausgeschlossen wären. Aber das alles ist doch nur eine Utopie in den Köpfen kleinbürgerlicher Harmonieapostel, und der Politiker, der sie zum Leitfaden seiner Politik nehmen würde, würde die Enttäuschung aller kleinbürgerlichen Politik erleben, durch die realen Tatsachen fortwährend ins Gesicht geschlagen zu werden.

Daher bestand von jeher die Kraft sozialdemokratischer Politik darin, dass sie den Kapitalismus erkannte und darstellte, wie er ist. Der wütende Kampf um den Profit zwingt die Kapitalisten dazu, die Löhne niederzudrücken, der Verkürzung der Arbeitszeit entgegen zu wirken und damit den Klassenkampf der Arbeiter wachzurufen. Er zwingt zum Aufsuchen neuer Märkte und neuer Anlagesphären des Kapitals, er treibt zum Imperialismus, zur Kolonialpolitik und bringt damit die Kapitalistenklassen verschiedener Länder in heftigen Kampf miteinander. Jeder versucht bei der Teilung der kleinen Erdoberfläche Stücke zu erwerben, wo er den Konkurrenten ausschließen kann und sich in fremden Weltteilen Einfluss zu verschaffen. Aber dazu gehört Macht. Das empfindet die Bourgeoisie jedes Landes instinktiv, dass nur Macht, bewaffnete Macht Geltung verschafft, und daher rüstet jede, um den anderen gewachsen oder überlegen zu sein. Da in einem Kriege zahllose unberechenbare Faktoren und Konstellationen mitspielen, besteht für keine der Staaten eine Norm, woran zu ermessen wäre, ob es kriegerisch stark genug ist – der Zweimächtestandard Englands war nur eine zeitweilige künstliche Form, weil man doch irgend einen Maßstab haben wollte –; seine eigene Finanzkraft und seine innerpolitische Lage entscheidet in erster Linie. Wie wäre da ein gegenseitiges Abkommen zur Einschränkung der Rüstungen möglich? Es wäre möglich in einem Fall: wenn ein Krieg in Zukunft ausgeschlossen wäre. Wie aber wurde die Idee des ewigen Friedens unter dem Kapitalismus von unserer Seite immer und mit Recht als Utopie verspottet! Wenn aber mit der Möglichkeit eines Krieges gerechnet werden muss, wobei die Völker im Dienste ihrer Kapitalisten einen Kampf bis aufs Messer führen, dann ist es undenkbar, dass diese sich gegenseitig vorschreiben lassen sollen: sie dürften sich für diesen Krieg nicht weiter stärken, als bis zu einer gewissen Grenze! Wenn durch die Not gezwungen ein solches abkommen mitunter zustande kommen würde, so würde es doch bei der nächsten Gelegenheit wieder gebrochen werden.

Hätten die Sozialisten die Forderung aufgestellt, die Bourgeoisie solle durch Beseitigung der großkapitalistischen Konkurrenz die Möglichkeit schaffen, hohe Arbeiterlöhne zu bezahlen, so hätten sie vielleicht aus der moralischen Entrüstung über die bösen Kapitalisten, die nicht wollen, billige Triumphe erzielen können; aber sie hätten zugleich die Köpfe der Arbeiter durch unklare Utopisterei verkleistert. Statt dessen haben sie die harte Wahrheit über den Kapitalismus dargelegt, wie er in Wirklichkeit ist, und damit die beste Grundlage zu einer gesunden revolutionären Bewegung gelegt. Gegenüber utopischer Schwärmerei ist die kapitalistische Verteidigung stark, die nachweist, dass das geforderte praktisch unmöglich ist. Wenn aber die Sozialisten die Wahrheit offen und schonungslos aufdecken, wie die Rüstungen und Kasten eine notwendige Folge des ganzen System sind, und nur mit dem System fallen können, dann würden die Wortführer des Kapitalismus andre Saiten aufziehen müssen, denn die volle Wahrheit über den Kapitalismus ertragen sie nicht. Bethmann-Hollweg hatte mit seinem Unmöglich vollkommen Recht; natürlich nicht „solange die Menschen Menschen bleiben“, sondern solange der Kapitalismus Kapitalismus bleibt. Seine Rede hat in hohem Maße aufklärend gewirkt; aber besser wäre es gewesen, wenn diese Klarheit von unsren Rednern ausgegangen wäre.

Man hat wegen dieser Rede dem Reichskanzler das Zeugnis eines beschränkten Politikers ausgestellt. Mit vollem Rechte. Aber in anderem Sinne, als das in einigen Parteiblättern geschah, wo die französischen und englischen Minister als die weitblickenden Politiker gerühmt wurden, weil sie einen höher entwickelten temperierten, demokratischen Friedenskapitalismus voraussehen, den wir auch wollen. Erstens sind die Abrüstungsbeteuerungen der Grey und Pichon, wie der ganzen bürgerlichen Demokratie, nur leere Worte, – mögen sie selbst auch vielleicht daran glauben – denen als Taten immer neue Millionenaufwendungen für Rüstungen gegenüber stehen. Aber gerade darin erweisen sie sich als die klügeren Politiker, nicht im Sinne des Sozialismus oder der Demokratie, sondern im Sinne des Kapitalismus. Wir haben keinen Grund, diese Klugheit im Gegensatz zu Bethmanns Beschränktheit rühmen, denn diese Klugheit wendet sich gegen uns. Während die preußisch-deutsche Methode der Vertretung der Kapitalinteressen in brutaler Gewalt gegen das Proletariat besteht, sehen wir in jenen anderen Ländern die vernünftigere liberale Methode, die Arbeiter durch schöne Phrasen, scheinbare Zugeständnisse und Bewegungsfreiheit irre zu führen, damit ihr Klassenbewusstsein verdunkelt wird. Bethmann-Hollweg plaudert die innersten Gedanken der Großkapitalisten aus; die anderen handeln in derselben Weise aber verbergen das hinter entgegenkommenden Redensarten. Die preußisch-deutsche Brüskierung und Unterdrückung der Arbeiter, fortwährend von einer theoretisch durchgebildeten Sozialdemokratie beleuchtet, hat das Klassenbewusstsein der deutschen Arbeiter im höchsten Maße geweckt und dadurch als kapitalistische Politik Fiasko gelitten. Dagegen hat die liberale Methode der westeuropäischen Bourgeoisie sich tatsächlich als die vernünftigere erwiesen und ihr Ziel vollständig erreicht. Es ist ihr nicht gelungen, den englischen und französischen Proletariern und ihren parlamentarischen Vertretern Sand in die Augen streuen, sondern sie darf sich rühmen, durch ihre geschickte Mache sogar einen Teil der Vertreter der deutschen Sozialdemokratie über die Wirklichkeit des Kapitalismus irregeführt zu haben.

Dieser Unterschied in kapitalistischer Politik ist jedoch nicht einfach auf den Gegensatz junkerlicher Unbildung und der Bildung der westlichen Bourgeoisie zurückzuführen. So sehr die traditionellen historischen Verhältnisse auch mitspielen, liegt doch die Hauptursache in der verschiedenen kapitalistischen Lage in Deutschland und in England. Der deutsche Kapitalismus ist ein junger hungriger Wolf, der die Welt und ihre Märkte schon verteilt fand, und nun überall vordringt, und nichts zu verlieren hat. England und Frankreich haben dieses Bedürfnis nicht; ihr alter Besitzstand reicht ihnen aus; sie können nur verlieren und wenig gewinnen. Deshalb machen sie die Rüstungen nur mit Widerwillen mit, die die deutsche Bourgeoisie so lustig und ungeniert betreibt, und liegt ihnen der Gedanke der Abrüstung viel näher; die kapitalistischen Wirklichkeit ist ihnen höchst unangenehm. Der Kampf gegen die Rüstungen muss daher vor allem im Herzen des Störenfrieds, in Deutschland betrieben werden, nicht durch Versuche die internationale Bourgeoispolitik zu lenken, sondern durch intensive Aufklärung der großen Massen über die kapitalistische Wirklichkeit, durch einen prinzipiellen Kampf gegen alle bürgerlichen Parteien.


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Compiled by Vico, 14 April 2018