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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Die Massenstreikdebatte / Anton Pannekoek, 1910


Quelle:  Die Massenstreikdebatte / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 124, 18. Juni 1910


Die Diskussionen über den Massenstreik und die Meinungsverschiedenheiten, die sich dabei zwischen Genossen zeigten, die sonst aufs Engste zusammenstimmten, haben nicht bloß eine theoretische Bedeutung. In ihnen treten zugleich die praktischen Schwierigkeiten ans Licht, die sich dieser neuen Taktik entgegenstellen. Unter dem Einfluß des russischen Beispiels wurde der Massenstreik 1905 von der deutschen Partei als mögliche Waffe anerkannt, wenn auch nur für die Defensive bestimmt. Die Wahlen von 19007 schoben die Gefahr eines Staatsstreiches gegen das Reichstagaswahlrecht in die Ferne, aber dafür das Proletariat in dem Kampf um das preußische Wahlrecht eine kräftige Offensive. Jedesmal, wenn dieser Kampf heftig aufloderte, zuerst 1908, und dann wieder im letzten Frühjahr, tauchte auch der Gedanke der Anwendung des Massenstreiks auf. Die Übergebung, daß man hier mit der überlieferten Taktik nicht zum Ziele komme, und daß diese neue Kampfmethode hinzukommen müsse, drängte sich immer mächtiger auf. Aber es ist, von einigen kleinen Eposoden abgesehen, njicht dazu gekommen. Schwere Widerstände stellen sich der neuen Methode in den Weg. Kräfte für und wider ringen mit einander. Die theoretische Diskussion ist nicht ein Redekampf um irgend eine absolute Wahrheit, sonder der theoretische Ausdruck jener mit einander kämpfenden Kräfte. In den Argumenten der einen Seite verkörpert sich die Notwendigkeit der neunen Takltik, in denen der anderen Seite verkörpern sich die Schwierigkeiten, denen ihre Anwendung begegnet. Daher lernt man in dieser Diskussion zugleich die realen MÄchte kennen, die in diesem Augenblick die Taktik der deutschen Sozialdemokratie bestimmen.

Der Hauptgrund, welcher gegen die Anwendung des Massenstreiks geltend gemacht wurde, bestand in dem Hinweis auf die kommenden Reichstagwahlen. Namentlich die führenden Kreise der Partei waren einer politischen Streikbewegung abgeneigt, weil sie sie mit Rücksicht af diese Wahlen als überflüssig und schädlich betrachteten. Hier zeigt sich die Macht der parlamentarischen Tradition in unserer Partei. Der parlamentarische Kampf hat die Partei groß gemacht; mittels des Strimmzettels haben wie Sieg auf Sieg errungen; daher gilt der Parlamentarismus als unsere beste und kräftigste Waffe. Mit ihm werden wir zweifellos noch größere Siege erkämpfen; weshalb also zu neue Mitteln greifen? Auf diese Betrachtungsweise ist unsere Presse abgestimmt; man redet dort von zerschmetternden Niederlagen, die man den Feinden beibrachte, von ihrer Angst und Ratlosigkeit vor neuen Verlusten. Aber est ist nötig, sich zu erinnern, daß das alles nur innerhalb der Sphäre des Parlamentarismus gilt, wo es sich noch nicht um das Ziel, die proletarische Herrschaft, sondern nur erst um die Mittel zum Ziel handelt, um einige Mandate, um die Organisation der proletarische Massen, um die Entlarvung der bürgerlichen Parteien und der Regierung als Organe der Klassenherrschaft. Bevor zu einem wirklichen Ringen um die Staatsgewalt geschritten werden konnte, mußten zuerst die Massen orgaanisiert und zum Klassenbewußtsein erzogen und die Autoritäat der herrschenden Klassen gebrochen werden. Diese Aufgabe fiel dem Parlamentarismus mit der ihn ergänzenden Gewerkschaftsbewegung zu, und diese Aufgabe hat er vorzüglich gelöst. Keine andere Kampfmethode hat bisher eine solche Errungenschaft aufzuweisen, die nichts weniger als eine geistige Umwälzung und Befreiung der zahlreichsten Menschenklasse darstellt. Darin liegt die hohe Wertschätzung des Parlamentarismus begründet, und seine Rolle ist auf diesem Gebiete gewiß nicht ausgespielt. Abet trotzdem bricht sich immer mehr das Bewußtsein durch, daß das alles vom Standpunkt der REvolution nur Vorarbeit ist; dem organisierten Proletariat bleibt dan noch die Aufgabe, die Herrschaft zu erobern, und auch mit dem glänzendsten Wahlsieg bleiben wir von jenem wirklichen Sieg noch gleich weit entfernt.

Der Parlamentarismus ist eine Waffe, die man genau kennt und zu handhaben weiß. Seine Methoden sund uns bis Einzelheiten vertraut. Der ganze Aufbau der Organisationen ist ihm angepaßt, und jede plötzlich eintretende Notwendigkeit findet den ganzen Parteiapparat als eine tadellos funktionierende Riesenmaschinerie sofort bereit. Man weiß genau, was man in jedem Einzelfall zu erwarten hat. Bei dem Massenstreik findet man sich dagegen auf einem ganzen neuen Terrain, wo alles fremd, unbekannt und unerprobt ist. Welche Resultate dort aus der Aktion folgen werden, welche Formen die Aktion selbst annehmen wird, kann man nur, unsicher schließend aus den Erfahrungen anderer Länder, vermuten. Man fürchtet sich vor Gefahren, die vielleicht eingebildet sind und sieht andere nicht, die sich unerwartet auftun können. Wieleicht kann man auf diesem unbekannten Gebiet einen verhekrten Schritt machen, der uns Niederlagen oder bedeutende Verlust bringt! Daher is es leicht verständlich, daß man mit der Anwendung der neuen Methode zögert und sich lieber am erprobten Alten hält. In der theoretischen Diskussion fiel vor allem der Mangel an übereinstimmung in der Auffassung der Massenstreiks auf: wie wird er sich praktisch gestalten? Diese Unsicherheit ist der theoretische Ausdruck einer zweiten wesentlichen Hemmnisses für seine praktische Anwendung, der Unbekanntheit mit der Handhabung der neuen Waffe. Hier bleiben der theoretischen Diskussion und Aufklärung noch die wichtigsten Aufgaben; jeklarer die Massen aus fremder Praxis und eigenen Verhältnisssen zusammen die ersten Formen dieser Kampfmethode erkennen, un so sicherer und fester werden sie sie handhaben, wenn die Zeit da ist.

Aber nicht nur eine geistige, sondern auch eine materielle Macht der Tradition steht ihr im Wege. Die Organisationsform ist den alten Kampfmethoden angepaßt und daher auch für den politischen und den gewerkschaftlichen Kampf streng getrennt. Die kleineren sozialdemokratischen Vereine sind als Wahlvereine konstituiert, die großen Organisationen der Gewerkschaften sind auf Lohnkampf und Tarifvertrag eingerichtet, während der Massenstreik eine gewerkschaftliche Massenaktion für politische Zwecke darstellt. Jede Organisation ist in allen ihren Organen ihrer bestimmten Funktion angepaßt, und um sie für neue Funktionen zu verwenden, ist ein Umbildungsprozeß nötig, der sich nur langsam und allmählich vollziehen kann. Die Schwierigkeit, sich vorzustellen, wie politischer und gewerkschaftlicher Kampf sich zu einer Einheit verschmelzen können, bildete bekanntlich auch eins der Argumente in der Massenstreikdebatte.

In den Massen ist die Einheit der beiden Organisations- und Kampfformen verwirklicht: sie fühlen die aus neuen Situationen entspringenden Notwendigkeiten am unmittelbarsten und werden dabei von der Macht der Tradition am wenigsten gehemmt. Die hemmenden Kräfte liegen in den der bisherigen Taktik angepaßten Formen der Organisation, in dem hoch ausgebildeten bureaukratischen Apparat und in den sie vertretenden Personen der Führer. Bei diesen Personen, den Partei- und Gewerkschaftsbeambten, den Parlamentariern, den Theoretikern, hat die zeitweilige Notwendigkeit der Praxis sich zu festen, wohlbegründeten theoretischen Anschauungen und Doktrinen verdichter. Diese haben einen viel festeren Bestand als die Auffassungen der klassenbewußten Masse, folgen weniger leicht den Umwandlungen der Verhältnisse, sind daher dem Einfluß der augenblicklichen Situation weniger unterworfen, aber sie wirken dafür auch als hemmende Kräfte in einer Zeit, wo neue Anschauungen und Methoden sich durchsetzen müssen. Daher muß dann von den Massen die Initiative ausgehen; sie müssen sich von der alten Anschauung freimachen, daß ihre Führer alles zur richtigen Zeit machen werden, sie müssen amgekehrt diese Führer vorwärts treiben in die neuen Bahnen.

Wir befinden uns jetzt im Anfange einer der wichtigsten Umwandlungen in der sozialistischen Bewegung. Die Deutsche Partei steht in dem Vordergrund der internationalen Bewegung: hier steht das bestgerüstete Proletariat dem stärksten Klassenstaat gegenüber; hier wird die erste Entscheidung in dem Riesenkampf zwischen Proletariat und Arbeit fallen müssen, die ihren Widerhall in den fernsten Weltteilen finden wird. Viele Jahrzehnte hat das deutsche Proletariat in emsiger Arbeit und zähem Kampf das SChwert zu seiner Befreiung geschmiedet, die klassenbewußte Organisation; diese Taktik hat im höchsten Grade das Denken und die Anschauungen der internationalen Sozialdemokratie bestimmt. Jetzt fängt es an, diese Waffe dür die tatsächliche Eroberung der Macht zu verwenden. Dazu sind neue Kampfmethoden nötig und dementsprechend müssen die alten ehrwürdigen Anschauungen für neue Platz machen. Das geht langsam; eine schwere Masse kann immer nur langsam ihre Bewegung ändern; aber es geht vorwärts mit unwiderstehbarer Gewalt. Überall ringen die sozialistischen Arbeiter, sich aus der Macht des Übernommenen zu befreien; in ihrem Geiste kämpfen die alte Wahrheit und die neuen Erfahrungen um sich zu eine höheren Einsicht zu verbinden. Eine tiefe geistige Umwandlung vollzieht sich allmählich in der deutschen Sozialdemokratie, die eine notwendige Vorbedingung zu der Inangreffnahme ihrer großen historischen Aufgabe ist. Von dieser Umwandlung bildet die letzte Massenstreikdebatte eines der Symptome.


Compiled by Vico, 31 August 2020