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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Das Werden einer neuen Arbeiterbewegung (kritische Bemerkungen)


Quelle:  Das Werden einer neuen Arbeiterbewegung (kritische Bemerkungen). – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung.  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1935, Nr. 10-11 (Juli-August); Quelle der Transkription: Rätekommunismus , 23. November 2020, Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


Zu dieser, im letzten Heft der Rätekorrespondenz gebrachten Arbeit, sind kritische Bemerkungen eingegangen, die unserer Meinung nach in einigen Punkten entweder eine richtigere Darstellung geben oder aber wertvolle Ergänzungen bringen. Wir bringen im Folgenden diese kritischen Bemerkungen zum Abdruck und sprechen dabei die Erwartung aus, dass es bei diesen Bemerkungen nicht bleiben wird, denn wir befinden uns erst im allerersten Anfang des Werdens einer neuen Arbeiterbewegung.

Wir sehen die unter obigem Titel gebrachte Arbeit als einen ersten Versuch, das Wesentliche dieser neuen Entwicklung in den Gesichtskreis der revolutionären Arbeiter zu bringen. Wenn es uns gelingt, durch das Aufrollen der mit dieser Entwicklung zusammenhängenden Probleme, durch die Klärung der vorhandenen und sich bildenden Meinungen und deren schließliche Formulierung zu allgemeingültigen Anschauungen diesem Werden die Wege zu ebnen, dann wird damit ein Stück Arbeit im positiv revolutionären Sinne geleistet sein.

Dazu aber bedarf es der Mitarbeit aller derjenigen Arbeiter, die auf räte-kommunistischem Standpunkt stehen und die sich auf ihrem speziellen Erfahrungsgebiet eigene und besondere Meinungen gebildet haben. Die Rätekorrespondenz steht für all diese besonderen Meinungen, die wertvolle Beiträge zur Klärung der angeschnittenen Fragen bringen können, offen. Erst der Zusammenklang, die kollektive Zusammenarbeit aller besonderen Auffassungen, ermöglicht einen allgemeinen Überblick und die Formulierung von allgemeingültigen Auffassungen. Und in diesem Sinne wiederholen wir unseren Aufruf zur tätigen Mitarbeit.

Einige Bemerkungen über die Aufhebung des Privatbesitzes

Auf Seite 13 [S. 181] wird als besonderes Beispiel, ja als Hauptpunkt der neuen Eigengesetzlichkeit des Arbeiterkampfes gesagt: dass das Eigentumsrecht nicht mehr gilt und dabei als Beispiel auf das Wegnehmen von Ladenvorräten, die für die Führung des Kampfes verwendet wurden, verwiesen. Nach diesem Beispiel könnte es den Anschein haben, als ob die durch die Arbeiterklasse angestrebte Aufhebung des Privatbesitzes bedeuten würde: Beschlagnahme, Wegnehmen von allem möglichen Privatbesitz von Geschäftsleuten und Bürgern. In Wirklichkeit ist das Ziel der Arbeiterklasse die Aufhebung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln; d.h. das in eigene Verwaltung Nehmen der Produktionsmittel, um sie für eigene Ziele anzuwenden, m.a.W. um damit für eigenen Bedarf zu produzieren.

Hiermit ist das Wegnehmen und Gebrauchen der Ladenvorräte im Kampf absolut nicht zu vergleichen. Dies ist eine Tat des Kampfes, eine Kriegsnotwendigkeit, vergleichbar mit dem, was die Bourgeoisie im Falle eine Krieges auch tut: Privates Eigentum in Beschlag nehmen, wenn es für ihre Zwecke (Sicherung, Verteidigung usw.) notwendig ist. Das angeführte Beispiel gibt Anlass zu irrigen Vorstellungen, die nur schaden können.

Man ist versucht zu fragen, ob nicht bei der Wahl dieses Beispiels das Bestreben vorhanden war, gegenüber den traditionellen (Auch) Revolutionären zu demonstrieren: Hier könnt ihr sehen, wie wir gegen das Privateigentum vorgehen und dass die Aktionen, die wir anstreben, echt revolutionär sind.

Wenn es so ist, dann ließ man sich leiten vom Schein, das Revolutionäre bestehe nicht in dem sich Brüsten mit der Missachtung des bürgerlichen Rechtes. Vornehmlich im Beginn revolutionärer Bewegungen werden diese danach streben, sich wohl selbständig von bürgerlicher Führung zu machen, aber doch zugleich im Rahmen bürgerlichen Rechtes und Gesetzes zu bleiben. Und nur indem dann in der Praxis sich zeigt, dass das nicht möglich ist, werden sie, getrieben durch die Not, nicht handelnd nach einem Prinzip, auch gegen das bürgerliche Gesetz und Recht zu stehen kommen und dann noch meistens das Brechen damit der gegnerischen Partei überlassen.


Die gemeinschaftliche Organisationsarbeit ist für die Arbeiterklasse zugleich die Regelung der kollektiven Produktion, darum unendlich vielumfassend und hohe Anforderungen stellend an jeden Einzelnen. […]
Je tiefer bewusst und klarer wissend die Angehörigen der neuen Klasse sind, um so besser und fruchtbringender, sieghafter und dauerhafter wird ihre Aktion sein.

Bei der Frage‚ was die Arbeitergruppen zu tun haben, muss man nicht stehen bleiben bei der Tatsache, dass sie jetzt klein sind: Gedanken und Auffassungen formen sich nach dem, was eine neue Arbeiterbewegung (revolutionäre Gruppen) als Aufgabe hat, wenn sie groß und zahlreich und ausgedehnt ist. Der Unterschied mit der alten Auffassung ist in erster Linie, dass die Massen allein, die Klasse selbst, die Aktionen, die sie an die Macht bringen, durchführen muss.

Aber auch die Überzeugung, dass damit nicht gewartet wird, bis die Massen so weit sind, dass sie kommunistische Einsicht haben, also begreifen, dass und wie sie es selbst tun müssen, sondern dass die großen Klassenbewegungen aus dem Notzustand der Gesellschaft erwachsen, manchmal unerwartet entflammen und auflodern, durch starken Druck von gewaltigen Kräften getrieben. Und dann vor einer Aufgabe stehen, an die sie vordem nicht dachten. (Dies gilt ebenso sehr für eine große revolutionäre Bewegung als für Bewegungen im kleineren Maße wie wilde Streiks usw.)

Solche Klassenbewegungen haben wir nicht in der Hand, sie kommen unerwartet, bleiben auch aus, wenn wir meinen, dass sie kommen müssen. Welchen Sinn hat dann unsere Propaganda?

Einmal dies: Dass je mehr Arbeiter in der Masse sich dessen bewusst sind, was geschieht, je mehr darunter sind, die klar sehen, was getan werden muss, je besser und klarer sie es wissen, um so mehr wird eine Bewegung sich durchsetzen, um so größere Festigkeit und Einheit wird sie schaffen, in weniger Fehler verfallen und auf Irrwege geraten und viel weniger schwere Niederlagen erleiden. Die Früchte einer Klassenbewegung hängen von der totalen Summe an Einsicht und Klarheit, die in dieser Bewegung ist, ab. – Wir wissen, dass diese nur zur vollen Entfaltung kommen in und durch den Kampf, doch wie sie sich entfalten, wie schnell, ohne viel Umwege, das hängt von der Summe von Einsicht ab, die vorher schon in den Köpfen der Fortgeschrittensten und Klarsten gewachsen war. Je mehr Arbeiter heute schon sich diese Einsicht zu eigen machen, darüber denken, lesen, diskutieren; je mehr gut geschulte Köpfe ohne weiteres guten Rat geben können, um so schlagkräftiger wird die Klasse sein.

Es schadet nicht zu sagen, dass sie als gute Führer auftreten müssen, die am besten Rat geben, Anträge stellen, manchmal Wortführer sind und damit ihrer Klasse vorwärts helfen; was bekämpft werden muss ist Berufsführertum, das an Stelle der Massen treten und beschließen, handeln und denken will. Es sind einmal die vielseitig denkenden Köpfe, ein anderes Mal die stürmisch handelnden Tatmenschen, dann an sich gleichgültige Wagehälse, in anderen Umständen geduldige administrative Organisatoren, manchmal tüchtige technische Sachverständige, die voran gehen müssen und auf welche es ankommt.

Und wenn der Kampf so größer wird und erste Erfolge erzielt, wenn von Siegen gesprochen werden kann, dann hat die Arbeiterklasse viele Kräfte nötig, die den höchsten Anforderungen in Hinsicht auf klaren Blick, feste Sicherheit, Verantwortlichkeit, Wissen genügen. (Charaktereigenschaften stehen hier außerhalb, sie können nicht erlernt werden.) Wie wird dann mancher, an den solch hohen Anforderungen gestellt werden, es bedauern, dass er in seiner Jugend nur eine Stunde vorbei gehen ließ, ohne sein Denken zu schärfen und zu entwickeln. Dann kommt es darauf an, dass jeder, der als Wortführer nach vorne geschoben wird und nach Auswegen aus schwierigen Lagen suchen muss, hell und klar weiß und durchsieht: Die Gesellschaft, die Klassen, ihre Ökonomie, ihre Klasseninteressen. Er befindet sich dann im gewissen Sinne in derselben Lage wie die Abgeordneten des Bürgertums in der Französischen Revolution, von denen Jaurés sagt: „Warum konnten die Männer in der National-Versammlung, unbekannte Bürger aus ganz Frankreich nach Paris gesandt, unerfahren in aller Politik, doch so glänzend ihre Aufgaben erfüllen, alle Machinationen des Hofes vereiteln und die Macht der neuen Klasse, des Bürgertums, so fest begründen? Weil sie erfüllt waren von einigen großen Prinzipien, von Wahrheiten, die sie lange und tief durchdacht hatten, die die Grundlage ihrer ganzen Lebensanschauung bildeten: Der Gedanke von der Gleichheit aller Bürger, von der Freiheit für alle Menschen, und von dem Zweck, dem der Staat dienen muss, nämlich um für sie gute Gesetze zu machen. Das alles hatten sie schon vorher bei Rousseau gelesen, bei anderen, die dieses instinktive bürgerliche Klassengefühl für sie klar und bewusst gemacht hatten. Das machte sie stark und innerlich fest und befähigte sie zu der gewaltigen Aufgabe der Rekonstruktion des Staates.

Dieser Vergleich mit der bürgerlichen Revolution trifft nur insofern nicht zu, als damals beim emporkommenden Bürgertum die Produktion die eigene Sache und das Lebenswerk jedes einzelnen im Besonderen war, während ihre gemeinschaftliche Aufgabe nur darin bestand, eine Staatsorganisation zu schaffen, die für ihren Arbeitsbetrieb passende Zustände schaffen musste, notwendig, aber doch nebensächlich. Darum konnte dies einer kleinen Gruppe von politischen Abgeordneten überlassen werden. Damit ist nicht gesagt, dass die Bürger diesen politischen Bau ohne weiteres an Paris überließen. Sie hatten vielmehr schon begonnen, ihre eigenen neuen Organe der Verwaltung und Gerichtsbarkeit illegal anstelle der königlichen Statthalter und Gerichte zu bilden, die einfach die Macht in die Hände nahmen und später erst durch das bürgerliche Gesetz anerkannt wurden. – Auch damals schon von unten auf in der Praxis.

Für die Arbeiterklasse aber ist die gemeinschaftliche Organisationsarbeit zugleich die Regelung der kollektiven Produktion, also unendlich mehr umfassend und höhere Anforderungen stellend an jeden Einzelnen. Aber wenn wir diesen Unterschied nicht aus dem Auge verlieren, dann lehrt uns die Geschichte der Französischen Revolution, dass, je tiefer das Bewusstsein und je klarer das Wissen bei den Angehörigen der neuen Klasse ist, umso besser und erfolgreicher, sieghafter und dauerhafter wird ihre Aktion sein.

Die Auffassung, dass nur die spontan entspringenden großen Klassenbewegungen die Arbeiterklasse an die Macht und zum Kommunismus bringen können, kann dazu führen, dass man abwartet und inzwischen sich selbst als eine Elite (wenn auch sich stets ausdehnende Elite) gut zu schulen, um sich so vorzubereiten für den kommenden, „großen Tag“. Es muss mit besonderem Nachdruck darauf verwiesen werden, dass diese Einsicht soweit wie möglich in der ganzen Klasse vorhanden sein muss. Es muss auch gesagt werden, dass jeder in dieser Weise revolutionär fühlende und denkende Arbeiter seinen Platz unter seinen Kameraden in der Fabrik oder Beruf annehmen muss und darin eine Triebkraft sein wird, die zum Handeln treibt. Vielleicht ist dann noch bei Manchen ein Rest von dem alten traditionellen Sauerteig vorhanden, der es als Pflicht des Revolutionärs ansieht, Bewegungen und Aktionen zu entfesseln, anzufachen und auszudehnen. Es hat dann den Anschein, als ob dies Letzte doch nur das einzige, unmittelbar Praktische ist, das man im Augenblick tun kann zur Vorbereitung größerer Dinge, und um nicht nur zu warten, was kommen muss.

Wenn man die großen Bewegungen in der Geschichte ins Auge fasst, sieht man auch die andere Seite. Wohl ist es wahr, dass die großen Klassenbewegungen, die zu Revolutionen werden, spontan ausbrechen, aus tiefen Notzuständen entsprangen. Aber nicht in dem Sinne, dass sie als die Verzweiflungstat einer beinahe zugrunde gehenden Klasse ausbrachen. Wir sehen viele Jahre vorher immer erneut die Not, das Elend, den dadurch hervorgerufenen Kampf und wieder Unterdrückung, manchmal auch blieb die Masse unter dem schwersten Druck bewegungslos, so dass Außenstehende an der Möglichkeit der Selbstbefreiung zweifelten. Doch was dabei während dessen im Stillen wuchs, das war das eigene Bewusstsein, das Selbstvertrauen der Klasse, in der die Überzeugung reifte, dass es anders werden musste, dass es so nicht länger ging, und dass man es selbst besser konnte. Das letzte war die Hauptsache: Die emporkommende Klasse musste ihren Weg sehen, musste sich bewusst werden von ihrem eigenen Recht und der eigenen Kraft, – dadurch allein konnte sie schließlich so massenhaft und so allgemein aufstehen und dann auch durch die schwersten Rückfälle, Miserie und Verzweiflung hindurch sich durchsetzen, bis zum endgültigen Siege. Das ist das Reifwerden der Klasse vor der Revolution: die Not, die nicht mehr zu ertragen ist, (nicht in beredten Worten von einzelnen, sondern in dem Fühlen der Massen) und das Selbstvertrauen, dass man es und wie man es besser machen kann. Große Millionenmassen werden in allgemeinen Streiks nur dann bis zum Ende aushalten, wenn in all diesen Millionen schon klar die Überzeugung lebt, dass sie die Welt regeln können und dass sie durch ihre Räte das Organ des Selbsthandels und der Selbstverwaltung schmieden können.

Darum besteht die wesentliche Vorbereitung und Beförderung der kommenden Bewegungen darin, dass in größtmöglichem Maße diese Gedanken über den neuen Kommunismus verbreitet werden. Damit der Gedanke vom Selbsthandeln als Masse durch das Rätesystem, durch aktive Teilnahme jedes Einzelnen am Denken, Beschließen, Ausführen zur allgemeinen Grundlagen des Denkens und Fühlens wird. Die Praxis in Kämpfen, die hier und dort ausbrechen, wird bei der Klärung der Geister im großen Maße helfen. Aber das ändert nichts daran, dass vor den Arbeitsgruppen eine gewaltige Aufgabe steht, und zwar die Propaganda, die direkt an den Fundamenten der Zukunft baut.

Der Charakter dieser Propaganda wird anders, da sie nicht mehr zum Ziel hat, Anhänger der eigenen, besonderen Auffassung zu gewinnen. Wir wissen, dass diese Gedanken nur nach und nach durchdringen und auch in jedem Einzelnen nur Schritt für Schritt zur Klarheit und zum Bewusstsein kommen.

Es gilt also nicht mehr, wie in der alten Arbeiterbewegung, die Zahl der hundertprozentigen Parteimitglieder (plus der Zahl der 20 und 10 prozentigen, der Mitläufer); sondern in allen und überall die Einsicht wachsen und steigen lassen. Darum kennt diese Propaganda auch nicht, was man bis dahin mangelnden Erfolg nannte, weil die Masse zu dumm oder unbeweglich war. Sie streut aus, überall, wirft die Gedanken auf, diskutiert, aber versucht nicht durch Überredung oder gerissene Schachzüge zu gewinnen. Sie versucht im Gegenteil das Selbstdenken anzuregen, gewinnt selbst dabei an Einsicht, findet es natürlich, dass andere noch nicht völlig mit übereinstimmen und stets wieder Unsicherheiten haben. Sie will überall, bei allen denen sie begegnet, bei jedem Arbeiter diese Gedanken einpflanzen, ohne zu fragen, wie viel davon im Augenblick hängen bleibt oder unmittelbar zu Taten führt. Indem man von der Auffassung ausgeht, dass man am Beginn der kommenden, wachsenden Bewegung und Entwicklung der Klasse steht, fehlt aller Ärger, der den Enttäuschten der alten Bewegung die Propaganda verbittert, und kann nur der Eifer zunehmen, um so viel wie möglich auszustreuen und auszusäen.


Die folgende Kritik gelangte in unsere Hände durch die internationale Post. Sie ist entnommen aus einem Brief, worin der Schreiber sagt, dass „seine Bemerkungen nicht für den Abdruck bestimmt sind.“ „Sie sollen nur Hinweise sein und Diskussionspunkte“. Als solche aber finden wir es notwendig, sie dennoch zum Abdruck zu bringen,


„In eurer Arbeit finde ich Stellen, die mir durchdacht und richtig erscheinen, so vor allem die Ausführungen über die Massenaktion, die kraft ihrer inneren Tendenzen und kraft des Verhaltens der Bourgeoisie über sich selbst hinaus treibt. Immerhin will ich auch zu diesem Punkte noch einige Anmerkungen machen, will aber eurer Darlegung selbst folgen.

Im Ganzen scheint mir, dass eure Arbeit trotz verschiedener guter Züge zu weit weg von jeder wirklichen und konkreten Bewegung der Arbeitermasse auf dem konkret gegebenen heutigen Kampffeld geschrieben ist, und dass ihre Resultate mehr durch spekulatives, sozusagen „philosophisches“ Nachdenken gewonnen worden sind, statt durch ernsthafte Analysen der heutigen Klassenlage in den einzelnen Ländern, der Untersuchung des gegebenen Standes kapitalistischer Wirtschaft und Politik auf nationalen und internationalen Feldern. Das wird schon dort klar, wo ihr die Arbeiterklasse als „totes Ding“ bezeichnet. Das ist einfach falsch. Denn die Arbeiterschaft steht auch heute durchaus aktiv im gesellschaftlichen Geschehen. Ihre Stützung der Sozialdemokratie in verschiedenen europäischen Ländern, ihre Einreihung in die von Roosevelt gekauften Gewerkschaften in den u.s.a. usw., das ist doch ein sozial sehr wirksames wenn auch höchst unbequemes Stück „Aktivität“. Denn die Arbeiter bewirken damit, wenn auch noch so schlecht, ein Stück reformistische Klassenvertretung, ringen um ihren, allerdings immer schmäler werdenden Anteil am Produkt, das sie selbst schaffen. Diese Aktivität bestimmt durchaus ein Stück der kapitalistischen Wirklichkeit, wenn es auch konservativ wirkt. Ein „totes Ding“ ist eine revolutionär passive Klasse nicht, nur ist ihre Aktivität erstens relativ schwach und läuft zweitens in einer Richtung, die bewusst nicht zum kommunistischen Kampf führt. Aber unbewusst trägt selbst eine reformistische Interessenvertretung dazu bei, die Dinge gesellschaftlich weiterzutreiben. Der Faschismus ist, wie Silone für Italien gezeigt hat und wie auch die deutsche Erfahrung lehrt, nicht der Schlag gegen eine Klasse, die unmittelbar vor der Revolution steht, sondern gerade gegen ihre reformistische Betätigung, die auf einer bestimmten Stufe des Monopolkapitals und bei einer bestimmten Zuspitzung der Krise unerträglich wird für die Bourgeoisie, die bereits um ihre ökonomische Existenz kämpft, sich durch ihre eigenen ökonomischen Widersprüche in ihrer Substanz angegriffen sieht. Wenn der Reformismus, der immerhin von einer ganzen Klasse getragen und geduldet worden ist, auf einer bestimmten Stufe eine kapitalistische Funktion innehat, so bildet er doch zugleich einen inneren Widerspruch des Kapitalismus, so etwa wie der Interessenkampf zwischen Agrarkapital und Exportindustrie einen inneren Widerspruch des Kapitalismus bildet. Und es ist durchaus möglich, dass der Kapitalismus in verschiedenen Ländern gerade durch diese vielseitigen inneren Widersprüche an einem Krisenmoment auseinandergerissen wird, und nicht durch eine revolutionäre Aktion. So ist es viel wahrscheinlicher, dass der deutsche Faschismus in sich zusammenbricht, als dass er durch eine Revolution überrannt wird. Der revolutionäre Kampf wird sich wahrscheinlich erst nach dem Zusammenbruch erheben (siehe auch die russische Revolution).

Was ihr sagt über die Notwendigkeit und Richtung der proletarischen Massenaktion und ihrer Räteform ist in vielem richtig, aber zu wenig konkret. Wie sieht die Entwicklung dahin aus? Ihr sprecht von einem Sprung in der Entfaltung der Klassenkräfte. Das steht da, als ob ihr einem Hegelianischen Wunderglauben verfallen wäret. Denn schließlich sind Sprünge, um den Ausdruck zu gebrauchen, in der geschichtlichen Entwicklung doch immer das Resultat der vielfältigsten molekularen Prozesse. Es wäre unsere Aufgabe, die allgemein kapitalistisch-sozialen und die proletarisch-klassenmäßigen Tatsachen zu untersuchen, die in der heutigen Situation in den einzelnen Ländern in dieser Hinsicht wirksam sind.

Ihr macht Eure Darlegung noch undurchsichtiger, indem ihr davon sprecht, dass ein revolutionärer Massenvorstoß keinen neuen „organisatorischen Apparat“, sondern ein neues „Lebensprinzip“ hervorbringen werde. Ich verstehe erstens nicht, was dieses „Lebensprinzip“ sein soll, und zweitens nicht, wie ein solcher Begriff anstelle von Organisation gesetzt werden kann. Wenn ihr den bisherigen „organisatorischen Apparat“ des kapitalistischen Staates, der reformistischen bolschewistischen Organisationen ablehnt, so ist das richtig. Wenn ihr weiter sagen wollt, dass andererseits die bloße Organisationsform der Räte noch lange kein klassenbewusstes Handeln garantiert, (ein solcher Glaube wäre Rätemystic) so habt ihr ebenfalls recht. Ihr könnt aber doch nicht leugnen, dass jeder Klassenkampf und jede Gesellschaftsbeherrschung ohne zweckentsprechende Organisation unmöglich ist. Wenn sich das kämpfende Proletariat durch seine Erfahrung hindurch auf dem ihm vom Klassengegner vorgeschriebenen Felde auf einer sozialistischen Linie bewegt, so muss es sich zwangsläufig neue Organisationen schaffen, die wir Räte nennen (Es muss sogar aus der Räteform heraus einen Staat schaffen, soweit es seine Klassengegner niederringen und niederhalten und den Angriff etwaiger kapitalistischer Armeen von außen abwehren muss.) Das Proletariat kann eine Unterdrückungsmaschinerie in diesem Sinne durchaus nicht entbehren, wie ihr schon bei Engels richtig lesen könnt. - Dies zu den Thesen über „Staat und Partei“, die merkwürdig über den wesentlichsten Punkt der Sache, über den Klassenkampf des Proletariats, das die gesellschaftliche Macht teilweise erobert hat, nichts zu sagen wissen, nichts zu sagen wissen über die Frage: Wie wird die Klasse einen solchen Repressionsapparat kontrollieren, wie wird sie die Möglichkeit haben, ihn abzubauen, wenn er seine Funktionen erfüllt hat, Dinge, die meiner Meinung nach nur im Widerspiel ökonomischer und politischer Räte ausgewogen und ausgekämpft werden können. Und in diesem Sinne wird der Organisationsaufbau für die kämpfende Klasse, die mit hundert Schwächen und Unzulänglichkeiten behaftet sein wird, sogar von entscheidender Wichtigkeit. Ich unterstreiche euren Satz: „Nur die Klassenmacht“. Allein er darf nicht benutzt werden, um sich über die Frage der Mittelschichten, insbesondere die der Bauern, hinwegzusetzen. Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Revolutionen sich nur dann vollzogen, wenn auch diese Schichten die Unerträglichkeit der bisherige Zustände spürten und eine Änderung begrüßten. Das europäische Proletariat hat außerdem die entscheidende Frage der sofortige Sicherstellung seiner Ernährung zu lösen und wird zunächst entscheidend darauf angewiesen sein, sich mit den Bauern auseinander zu setzen. Die Gewalt ist dazu der schlechteste Weg, den man nur im äußersten Notfall gehen wird. Also steht die Frage des Verhältnisses zu den Bauern und zu anderen Teilen der Mittelschichten – nicht so sehr „nach dem Tage der Machtergreifung“, sondern im Kampfe um die Macht und während derselben also in tausend gigantischen Schwierigkeiten – für uns auf der Tagesordnung.

Nun zur wichtigsten Frage, der der „neuen Organisation“. Wir sind uns wohl darüber einig, dass einerseits eine politische Organisation die Selbstständigkeit des Klassenhandelns nicht ersetzen kann, dass also reformistische, zentristische bolschewistische, also bürgerliche Formen von Führerorganisationen niedergekämpft werden müssen. Es scheint jedoch, dass wir uns nicht darüber einig sind, welche Rolle die „neue Organisation“ im Proletariat spielen soll. Wie ihr es darlegt, spielt die kommunistische Organisation in der Entwicklung des Proletariats eine durchaus untergeordnete Rolle. Ich schließe das wenigstens daraus, dass ihr von den kleinen Gruppen sprecht, die ganz lose nebeneinander stehen, sich natürlich verständigen können, aber eigentlich als selbständige kleine Zentren bestehen bleiben, und, was die Folge ist, eben nach Möglichkeit propagandistisch wirken. Im Grunde aber geht die Klasse ihren eigenen Weg. Ich halte das für unzureichend, glaube, dass es im Widerspruch steht zu der Wirklichkeit und den Aufgaben, die vor uns liegen.

Ihr habt euch die Sache vereinfacht, indem ihr sagt, die Klasse sei jetzt ein „totes Ding“ und werde plötzlich einen Sprung zum Klassenbewusstsein vollziehen. Damit schenkt ihr euch aber doch nur die schwierige, aber dringende Aufgabe, alles genau und konkret zu untersuchen, ohne dass ihr einen Schritt weiter kommt. Denn in Wirklichkeit ist die Arbeiterklasse in den einzelnen Ländern kein unbeschriebenes Blatt, sie ist vielmehr schon mit einer langen Vergangenheit beladen und belastet. Ihr denkt, wenn jetzt der Faschismus die alten Organisationen zerstört hat, dann sind sie weg, und die Arbeiter fangen klassenrichtig wieder an von vorne wieder aufzubauen. Das Alte ist aber noch gar nicht weg. Es bestehen zunächst noch Reste, auch dort wo der Faschismus herrscht, die viel größer sind als das, was sich mühselig neu durchquält. Es bestehen noch große soziale Zentren für das Alte: Das bolschewistische Russland und die amerikanischen Gewerkschaften, die doch augenblicklich bei aller Wildheit der dortigen Arbeitskämpfe (sogar mit Verletzung des Eigentumsprinzips – wie ihr schildert) und in einer sozial gespannten Situation, zunächst gerade das festigen, was in Europa jetzt zugrunde geht. Wie lange das möglich ist, ist unbestimmt – ein Grund mehr, um die Dinge dort sachlich und exakt zu verfolgen. – Das Alte lebt aber auch noch in den Köpfen weiter. Ich denke daran, dass bei einem Zusammenbruch des deutschen Faschismus vielleicht ein Dutzend Parteien da sein werden, die sich auf die Arbeiter stürzen: bolschewistische, zentristische und reformistische Strömung verschiedenster Richtung, neben ihnen verschiedene Gruppierungen, die von Grund auf anfangen wollen, und sich noch lange nicht über alles Wesentliche klar sein können. Es scheint mir, dass eure Haltung nun die hoch gespannteste Einwirkung auf diese chaotische Situation unmöglich macht, oder doch wesentlich herabsetzt. Kommunisten brauchen eine Organisation (sie brauchen, wie ich denke, sogar eine zweite, analoge betriebliche Organisation), die zwar im Innern alle Apparatmethoden und Führerbeherrschung unmöglich macht, aber als straff zusammengefasstes Instrument wirksam werden kann. Viele einzelne, große Gruppen sind ein Klärungs- und Durchgangsstadium, aber kein Ideal.

Eine föderalistische Organisation kann sich nicht durchsetzen, weil sie der monopolkapitalistischen Situation, in der sich das Proletariat befindet, überhaupt nicht entspricht. Sie wäre noch ein Schritt zurück hinter die alte Bewegung, statt ein Schritt über sie hinaus.

Wenn ihr das, und zwar international, nicht anstrebt, dann überlasst ihr erstens das Feld unangefochten den zunächst noch wirkungsfähigen anderen Organisationen, die das Proletariat zum zweiten Mal in den Sumpf zerren wollen. Zweitens schafft ihr wesentlich nur lokal beschränkte Erfahrungszentren, denen es viel schwerer wird, zu allgemeiner Klassenerfahrung aufzusteigen. Denn die Vereinheitlichung und Internationalisierung aller Erfahrung bleibt eine der zentralen Aufgaben kommunistischer Organisation (Ihr sagt: die „Wissenschaft“, was so schlecht ausgedrückt ist, denn es handelt sich um engste Verbindung mit aller kämpferischen Praxis). Drittens aber behandelt ihr die Neuorganisation gar nicht so, als ob sie aus Arbeitern, sondern als ob sie neben den Arbeitern bestände. Es ist aber doch klar, dass die kommunistischen Elemente, die sich in der Klasse [muss heißen: Gruppe, der Rätekorrespondenz] zusammenschließen, ebenfalls Teile der Klasse sind, die Fortgeschrittensten. Ihre Organisation wird also, in welchen konkreten Formen immer, an allen Massenkämpfen aktiven Anteil zu nehmen suchen. Sie kann sich doch nicht daneben stellen, um hinterher theoretische Schlüsse zu ziehen.

Aktionsausschüsse, Räte, etc. sind die allgemeinsten Formen der Klassenorgane. Die Reife der kämpfenden Massen, die diese sich schwer erringen müssen, manifestiert sich nicht in dem Fehlen von Parteien und so weiter, sondern darin, dass sie sich in ihren Kämpfen, die auch Kämpfe zwischen verschiedenen politischen Organisationen sind, selber ausprobieren, und schließlich auf die politische Linie zustoßen, die die fortgeschrittenste dieser Organisationen verkörpert. Dieser Organisation, die durchaus nicht Partei heißen muss und auch grundlegend von dem unterschieden sein wird, was jetzt so heißt, kann den Prozess des Reifens der Massen ungeheuer beschleunigen, indem sie zur maximalen Kraftentfaltung drängt. Aber noch während und selbst nach einer Machtergreifung wird es noch rückständige Schichten geben, die sich an andere, ihnen entsprechende Parteien anlehnen, mit denen wir uns also auseinandersetzen müssen. Ihr werdet vielleicht sagen: Dann sollen wir also zum Dutzend die 13. Partei werden. Das ist aber falsch. Denn wir verkörpern andere Prinzipien, andere Organisationsauffassungen, und unsere Arbeit wird anders aussehen. Aber wirksam müssen wir werden, und das im höchstmöglichen Grade.

Weiterhin vernachlässigt ihr im Großen und Ganzen überhaupt das Kampffeld, das der Arbeiterklasse zwangsläufig vorgeschrieben ist. Das nicht nur in dem Sinne, dass ihr das vielgestaltige ungeheuer widerspruchsvolle Bild des heutigen Kapitalismus nicht zu zeichnen versucht, respektive seine Züge nicht erforscht. Sondern das auch in dem Sinne, dass ihr von den allgemeinen Dingen nur Eines betont: den kapitalistischen Kampf um den Profit. Dass dieser Kampf aber erstens eine bestimmte, sich verändernde ökonomische Struktur des Kapitalismus als seine Basis hat, das rückt für euch nicht in den Gesichtskreis. Dabei spielt sich alle Entwicklung des Kapitalismus im Zusammenspiel und im Antagonismus von Ökonomie und Politik ab.

Das Proletariat ist auf beide Felder gestellt, es muss sich auf beiden mit dem Gegner schlagen, muss also einen Machtapparat zerschlagen und einen Produktionsapparat erobern, muss den Produktionsapparat grundlegend umgestalten und aufs Neue politisch sichern. Es kann sich also aus diesem Zusammenspiel und diesem Antagonismus nicht heraushalten, muss beide in den Stadien seiner Revolution organisatorisch bewältigen (Denn ich rede hier von den Stadien des vielleicht lange währenden Entscheidungskampfes, nicht von dem was später sein wird). Das heißt: Politische Räte als Instrumente proletarischer Klassenmacht, wirtschaftliche Räte als Organe der Übernahme der Produktionsstätten und ihres Einsatzes nicht allein zu sogenannter Aufbauarbeit, sondern auch angepasst den Bedingungen des fortgehenden Klassenkrieges, mit den proletarischen Menschen, wie sie in Wirklichkeit sind. Das heißt weiter: Kommunistische Organisation auf der Linie der Sozialisierung und auf der Linie der Machteroberung. (Betriebliche Organisation und politische Organisation.)


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Compiled by Vico, 2 December 2020