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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Marxistische Theorie und revolutionäre Taktik [4-6] / Anton Pannekoek, 1912


Quelle:  Marxistische Theorie und revolutionäre Taktik [4-6, Schluß] / Anton Pannekoek. – In: Die Neue Zeit, 31. Jg. (1912-1913), 1. Bd., Nr. 10, 6. Dezember 1912, S. 365-373. Korrigierter OCR.

[Fortsetzung]


4. die Eroberung der Herrschaft

Für die Zurückweisung der merkwürdigen Äußerungen Kautskys über die Rolle des Staates und die Eroberung der politischen Herrschaft sowie für die Beleuchtung seiner Anarchistenriecherei müssen wir auf die „Leipziger Volkszeitung“ vom 10. September verweisen. Hier sei nur noch einiges zur Beleuchtung unserer Differenzen hinzugefügt.

Die Frage, wie das Proletariat die demokratischen Grundrechte bekommt, die ihm bei genügendem sozialistischem Klassenbewußtsein die politische Herrschaft in die Hand liefern,. ist die Grundfrage unserer Taktik. Wir vertreten die Auffassung, daß sie der herrschenden Klasse nur durch Kämpfe abgezwungen werden können, in denen sie ihre ganze Macht gegen das Proletariat ins Feld führt und ihre ganze Macht also vernichtet werden muß. Eine andere Auffassung wäre diese, daß die herrschende Klasse sie freiwillig gibt, durch allgemeine demokratische oder ethische Ideen geleitet, ohne ihre Machtmittel zu benutzen – das wäre das revisionistische friedliche Hineinwachsen in den Zukunftsstaat. Kautsky ist mit keiner der beiden Anschauungen einverstanden; welches Dritte bleibt hier übrig? Wir haben aus seinen Äußerungen geschlossen, daß er sich die Eroberung der Herrschaft als eine einmalige Niederwerfung der Macht des Feindes denkt, als einen Akt ganz anderer Natur als alles, was bis dahin, als Vorbereitung zu dieser Revolution, die Tätigkeit des Proletariats bildet. Weil Kautsky die Richtigkeit dieser Schlußfolgerung bestreitet und Klarheit über seine Grundanschauungen über die Taktik erwünscht ist, führen wir zunächst die wichtigsten Stellen an. Im Oktober 910 schrieb er:

„Ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einer politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen, in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod, als einen Kampf, der unserer Gegner niederringt oder die Gesamtheit unserer Organisationen und ganze Macht für Jahre hinaus zerschmettert oder mindestens lähmt“ („Neue Zeit“, XXVIII, 2, S. 374).

Die Niederringung unserer Gegner ist hier wohl nichts anders zu verstehen als die Eroberung der politischen Macht – sonst müßte ja nachher der einmalige Akt zum zweitens oder drittenmal wiederholt werden. Natürlich kann der Ansturm sich auch als zu schwach erweisen; dann ist er eben gescheitert, bringt eine schwere Niederlage und muß nachher aufs neue versucht werden; wenn er aber gelingt, ist das Endziel erreicht. Jetzt allerdings erklärt Kautsky (S. 695), daß er niemals behauptet habe, der Massenstreik sei ein Ereignis, bestimmt, die kapitalistische Herrschaft mit einem Schlage niederzuwerfen. Wie dann das obige Zitat zu verstehen ist, ist mir nicht klar.

In seinem Artikel „Die Aktion der Masse“ schrieb Kautsky 1911 über die spontanen Aktionen der unorganisierten Masse (der Straße):

„Gelingt aber die Massenaktion, tritt sie mit einer überwältigenden Wucht, so großer Erregung und Rücksichtslosigkeit der Massen, so ungeheurem Umfang ihres Bereichs, so überraschender Plötzlichkeit bei so ungünstiger Situation unserer Gegner auf, daß sie unwiderstehlich wirkt, dann kann die Masse heute den Sieg ganz anders ausnutzen als ehedem. (Folgt der Hinweis auf die Arbeiterorganisationen.) Wo diese Organisationen Wurzel gefaßt haben, da sind die Zeiten vorbei, in denen das Proletariat durch seine Siege in spontanen Massenaktionen nur für einzelne, gerade in der Opposition begriffene Fraktionen seiner Gegner die Kastanien aus dem Feuer holte. Es wird sie künftighin selbst verzehren können“ („Neue Zeit“, XXX, 1, S. 116).

Auch diesen Satz kann ich nicht anders verstehen, als daß hier, statt wie früher einer bürgerlichen Gruppe, jetzt dem Proletariat selbst die politische Herrschaft in die Hände fällt infolge einer gewaltigen spontanen Erhebung der unorganisierten Massen, die durch besondere aufpeitschende Ereignisse veranlaßt wurde. Auch hier ist die Möglichkeit vorgesehen, daß zuerst vergebliche Anstürme stattfinden, die in einer Niederlage zusammenbrechen, bevor einmal der Angriff gelingt. Eine solche politische Revolution fällt, durch Teilnehmer und Methoden, völlig außerhalb des Rahmens der heutigen Arbeiterbewegung; während diese ihre Aufklärungs- und Organisationsarbeit regelmäßig weiterführt, bricht auf einmal unter dem Einfluß gewaltiger Ereignisse, völlig unberechenbar, die Revolution „wie aus einer anderen Welt“ über sie herein. Wir können also nichts anderes daraus lesen, als wir in unserem Artikel darlegten. Das Wesentlichste ist dabei nicht, daß diese Revolution ein einmaliger kurzer Akt sei; auch wenn die Eroberung der Herrschaft aus einigen solchen Akten (Massenstreiks und Aktionen der „Straße“) bestehen soll, bleibt als das Wesentliche dieser Auffassung der scharfe Gegensatz bestehen zwischen der Gegenwartsarbeit des Proletariats und der künftigen revolutionären Eroberung der Herrschaft die einer ganz anderen Ordnung der Dinge angehört. Das wird von Kautsky jetzt ausdrücklich bestätigt:

„Ich möchte nur noch zur Vermeidung von Mißverständnissen darauf hinweisen, daß ich in meiner Polemik mit der Genossin Luxemburg von politischen Massenzwangsstreik handelte, in meinem Artikel über die „Aktion der Massen“von Straßenunruhen rede. Von ihnen behaupte ich, sie könnten unter Umständen politische Katastrophen herbeiführen, seien aber unberechenbar und nicht nach Belieben zu veranstalten. Ich handelte dabei nicht von bloßen Straßendemonstrationen“ (S. 695).
„Ich wiederhole es nochmals, meine Theorie des „passiven Radikalismus“, das heißt des Abwartens der passenden Gelegenheit und Stimmung der Masse, die beide nicht von vornherein zu berechnen oder durch Organisationsbeschluß herbeizuführen seien, bezog sich nur auf Straßenunruhen und Massenstreiks, die eine politische Entscheidung erzwingen wollen – also nicht auf Straßendemonstrationen und auch nicht auf Demonstrationsstreiks. Solche können sehr wohl gelegentlich durch Partei- oder Gewerkschaftsbeschluß ohne Rücksicht auf die Stimmung der unorganisierten Masse herbeigeführt werden, bedingen aber auch keine neue Taktik, solange sie bloße Demonstrationen bleiben“ (S. 396).

Wir wollen nicht darauf eingehen, daß ein politischer Massenstreik, der 1910 nur als einmaliger Akt denkbar hieß und deshalb damals für den preußischen Wahlrechtskampf unerlaubt war, jetzt auf einmal als „Demonstrationsstreik“ unter den willkürlich zu veranstaltenden Gegenwartsaktionen auftaucht. Wir weisen bloß darauf hin, wie Kautsky hier die Gegenwartsaktionen, die nur Demonstrationen sind und willkürlich veranstaltet werden, scharf von den unberechenbaren revolutionären Zukunftsaktionen trennt. In dem Gegenwartskampf mögen mal neue Rechte gewonnen werden: mit einem Schritt zur Eroberung der Herrschaft haben sie nichts zu tun, sonst würde ja die herrschende Klasse ihnen einen Widerstand entgegenstellen, der nur durch Zwangsstreiks zu brechen wäre. Arbeiterfreundliche Regierungen mögen mit arbeiterfeindlichen abwechseln, Straßendemonstrationen und Massenstreiks mögen dabei eine Rolle spielen, aber mit alledem wird nichts Wesentliches in der Welt geändert; unser Kampf bleibt „ein politischer Kampf gegen die Regierungen“, der sich auf „Opposition“ beschränkt und die Staatsgewalt mit ihren Ministerien unbehelligt läßt. Bis auf einmal durch äußere Ereignisse eine riesige Volkserhebung aufflammt mit Straßenunruhen oder Zwangsstreiks, die mit Geschichte Schluß macht.

Eine solche Anschauungsweise ist nur möglich, wenn man den Blick an den äußeren politischen Formen haften läßt und für die materielle Wirklichkeit, die dahinter steckt, kein Auge hat. Nur die Betrachtung der Machtsfaktoren der kämpfenden Klassen, die hier wachsen, dort abnehmen und einander zu vernichten suchen, bietet den Schlüssel zum Verständnis der revolutionären Entwicklung Sie hebt den scharfen Gegensatz zwischen Gegenwartsaktion und Revolution auf. Zwischen den verschiedenen von Kautsky erwähnten Aktionsformen besteht kein schroffer Gegensatz, sondern nur ein gradueller Unterschied, als schwache und sehr kräftige Aktionsformen derselben Gattung. Erstens in ihrem Ursprüng; auch die einfachen Demonstrationen sind nicht willkürlich zu veranstalten, sondern sie sind nur möglich, wenn äußere Anlässe eine starke Erregung geweckt haben, wie jetzt die Teuerung und die Kriegsgefahr und 1910 die preußische Wahlrechtsvorlage. Je stärker die Erregung, umso machtvoller können sich die Aktionen entfalten. Für die stärkste Form des Massenstreiks gilt nicht einfach, wie Kautsky S. 695 ausführt, daß wir sie „aufs energischste zu fördern und zur Stärkung des Proletariats zu benutzen“ hätten, wenn durch solche Bedingungen eine Massenbewegung schon entstanden ist; sondern wenn die Bedingungen da sind, hat die Partei als die bewußte Trägerin der tiefsten Empfindungen der ausgebeuteten Massen die nötigen Aktionen zu veranstalten und die Führung zu übernehmen – also im großen ähnlich zu handeln wie heute im kleinen. Die Anlässe sind unberechenbar, aber die Aktionen sind unsere eigene Tat. Zweitens in den Teilnehmern; Gegenwartsdemonstrationen können wir nicht strenge auf die Mitglieder beschränken; wenn diese auch zuerst ihre Kerntruppen bilden, werden andere sich im Laufe des Kampfes anschließen In unserem vorigen Aussatz legten wir dar, wie sich beim Steigen der Aktion der Kreis der Beteiligten bis auf die große Volksmasse steigert, ohne daß dabei von regellosen Emeuten der Straße im alten Sinne die Rede sein kann. Drittens in der Wirkung der Aktion: die Eroberung der Herrschaft durch die stärksten Aktionsformen besteht im tiefsten Grunde in der Auslösung der Machtmittel des Feindes und in dem Aufbau der eigenen Macht. Aber auch die heutigen Aktionen, die einfachen Straßendemonstrationen zeitigen schon im kleinen Maßstab diese Wirkung; als die Polizei 1910 machtlos den Versuch aufgeben mußte, die Demonstrationen zu verhindern, bedeutete das eine erste Abbröckelung der Macht der Staatsgewalt, die völlig zu besiegen den Inhalt der Revolution bildet. In diesem Sinne kann man jene Massenaktionen als den Anfang der deutschen Revolution bezeichnen.

Der hier dargelegte Gegensatz unserer Auffassungen mag zunächst rein theoretischer Natur erscheinen; aber er hat doch eine große praktische Bedeutung für unsere Taktik. Nach der Kautskyschen Auffassung muß man sich jedesmal, wenn der Anlaß zu einer kräftigen Aktion auftaucht, die angstvolle Frage stellen, ob sie uns nicht durch ihre Konsequenzen, indem sie die ganze Macht des Gegners gegen uns mobil macht, zu einer „Machtprobe“ treiben wird, das heißt zu einem Versuch, die Revolution zu machen. Und weil man weiß, daß wir dafür noch zu schwach sind, wird man nur zu leicht vor der Aktion zurückschrecken – das war der Sinn der Massenstreikdebatte in der „Neuen Zeit“ 1910. Wer aber den von Kautsky aufgestellten Gegensatz zwischen Gegenwartsaktion und Revolution nicht anerkennt, beurteilt jede Aktion als eine Gegenwartsfrage, die nach den vorhandenen Bedingungen und Stimmungen der Masse geprüft und doch zugleich als Teil eines großen Zieles bewertet wird. Man dringt bei jeder Aktion, ohne sich durch falsche theoretische Zukunftserwägungen lähmen zu lassen, vorwärts, als bei den vorliegenden Verhältnissen möglich erscheint. Denn es handelt sich dabei nie um die volle Revolution, auch nicht um einen bloßen Gegenwartsgewinn, sondern immer um einen Schritt auf dem Wege der Revolution.

5. Parlamentarismus und Massenaktionen

Massenaktionen sind nichts Neues, sondern so alt wie der Parlamentarismus selbst; jede Klasse, die sich des Parlamentarismus bediente, hat auch gelegentlich Massenaktionen angewandt. Denn sie bilden eine notwendige Ergänzung, oder richtiger noch, eine Korrektur des Parlamentarismus. Da das Parlament, wo das parlamentarische System ausgebildet ist, die Gesetze, also auch das Wahlgesetz für sich selbst bestimmt, hätte eine einmal herrschende Klasse oder Clique es in der Hand, trotz aller gesellschaftlichen Entwicklung, ihre Herrschaft für alle Ewigkeit zu festigen. Tritt aber ihre Herrschaft zu der neuen Entwicklung zu sehr in Widerspruch dann tritt die Massenaktion, oft in der Gestalt einer Revolution oder Volkserhebung, als Korrektur auf, fegt die herrschende Clique weg, zwingt dem Parlament ein anderes Wahlgesetz auf und bringt derart Parlament und Gesellschaft wieder miteinander in Übereinstimmung. Auch kann es vorkommen, daß eine Massenaktion als Wirkung eines großen Notstandes der Masse auftritt, als Druck auf das Parlament, Maßnahmen zur Abhilfe zu treffen. Die Furcht vor den Folgen der Volksempörung zwingt oft die im Parlament herrschende Klasse zu Maßnahmen im Interesse der Massen, für die sie sonst nicht zu haben wäre. Ob bei diesen Massenaktionen zugleich Männer im Parlament sitzen, die als ihre Wortführer auftreten, ist zwar alles anderes als wertlos oder gleichgültig, aber doch nebensächlich; die bestimmende und entscheidende Kraft liegt draußen.

Auch jetzt sind wir in eine Periode geraten, in der diese Korrektur des Parlamentarismus mehr als je nötig ist; einerseits lockt der Kampf um das demokratische Wahlrecht, andererseits die Teuerung und die Kriegsgefahr Massenaktionen heraus. Kautsky weist mit Vorliebe darauf hin, daß diese Kampfformen nichts Neues darstellen; er betont die Gleichartigkeit mit dem Früheren. Wir heben dagegen das Neue hervor, wodurch sie sich von allem Früheren unterscheiden. Mit dem Anfang der Anwendung dieser Methoden durch das sozialistische Proletariat Deutschlands bekommen sie einen neuen Charakter, eine neue Bedeutung und neue Konsequenzen, die zu erörtern gerade Inhalt und Ziel meines Artikels war. Erstens weil das hochorganisierte, klassenbewußte Proletariat, dessen entwickeltsten Typus wir im deutschen Proletariat vor uns haben, einen ganz anderen Klassencharakter als frühere Volksmassen aufweist und daher seine Aktionen auch ganz anderer Natur sind. Zweitens weil dieses Proletariat dazu bestimmt ist, eine tiefgreifende Revolution durchzuführen und daher seine Aktionen, auch wo sie nicht direkt einem Wahlrechtskampf dienen, eine tief umwälzende Wirkung auf die ganze Gesellschaft, auf die Staatsgewalt und auf die Massen, ausüben müssen.

Mit Unrecht glaubt also Kautsky als mustergültiges Beispiel England anführen zu können, „wo wir am besten das Wesen moderner Massenaktionen studieren können“. Wir reden über politische Massenaktionen, die neue Rechte erobern sollen, damit die Macht des Proletariats im Parlament zum Ausdruck kommt – in England handelte es sich um gewerkschaftliche Massenaktionen, um einen Riesenstreik für gewerkschaftliche Forderungen, der als Ausdruck der Schwäche der alten konservativen Gewerkschaftsmethoden Hilfe bei der Regierung suchte. Wir reden über Aktionen eines sozialistisch durchgebildeten, politisch reifen Proletariats wie in Deutschland in England fehlte den streitenden Massen noch völlig diese sozialistische Einsicht, die politische Klarheit, die fiir solche Aktionen nötig sind. Gewiß; auch sie beweisen, daß die Arbeiterbewegung ohne Massenaktionen nicht auskommt; auch sie sind Folgen des Imperialismus. Aber trotz der bewundernswerten Solidarität und Ausdauer, die sich dabei zeigten, tragen sie doch werten mehr den Charakter von Verzweiflungsausbrüchen als von bewußten Aktionen, die zur Eroberung der Herrschaft führen und nur von einem sozialistisch Proletariat unternommen werden können.

In der „Leipziger Volkszeitung“ haben wir schon darauf hingewiesen, daß Parlamentarismus und Massenaktion nicht zueinander in Gegensatz stehen, sondern daß die Massenaktionen im Wahlrechtskampf dazu dienen, einen neuen breiteren Boden für den Parlamentarismus zu gewinnen. Und in unserem ersten Artikel bezeichneten wir die moderne Form des Kapitalismus, den Imperialismus, durch seine Kriegsgefahr (*) und seine Teuerung als die Quelle der modernen Massenaktionen. Dem Genossen Kautsky erscheint es jedoch „nicht recht verständlich“, daß sich daraus „die Notwendigkeit einer neuen Taktik“, soll also heißen: die Notwendigkeit von Massenaktionen ergibt; denn die allgemeinen Wirkungen der Elementarkräfte des Kapitalismus, gegen die die Parlamente machtlos sind, können auch durch Massenaktionen, die doch nur den Zweck haben, „Parlamentsbeschlüsse zu ersetzen oder zu erpressen“, wenig wie durch irgendeine andere politische Aktion beseitigt werden – wie zum Beispiel die Ursachen der Teuerung, die in Mißernte, Goldproduktion und Kartellwesen liegen. Schade, daß die Pariser von 1848, die durch Teuerung und Krise in den Aufstand getrieben wurden, das nicht gewußt haben; dann hätten sie sicher keine Februarrevolution gemacht. Vielleicht erblickt Genosse Kautsky darin wieder eine Probe des Unverstandes der Massen, deren Instinkt auf keine vernünftigen Erwägungen hört. Wenn aber die Masse, entgegen den Ratschlägen des Theoretikers, daß gegen solche Elementarübel des Kapitalismus keine politische Aktion etwas helfen kann, dennoch, durch Hunger und Not aufgepeitscht, sich zu mächtigen Aktionen zusammentut und Abhilfe fordert, so hat der Instinkt der Masse recht und die Wissenschaft des Theoretikers unrecht. Erstens, weil die Aktion sich unmittelbare Ziele stellen kann, die nicht sinnlos sind; Regierungen und Behörden können, wenn sie nur durch einen kräftigen Druck gezwungen werden, sehr viel zur Linderung der Not tun, auch wenn diese Not nicht – wie in Deutschland durch Zoll und Grenzsperre – eine Folge von Parlamentsbeschlüssen ist, sondern aus tieferen Ursachen stammt. Zweitens, weil die bleibende Wirkung großer Massenaktionen eine mehr oder wenige tiefgehende Erschütterung der Kapitalherrschaft ist, also die Grundursache in ihrer Wurzel antastet.

Kautsky geht immer von dem Grundgedanken aus, daß der Kapitalismus, solange er noch nicht in den Sozialismus umgeschlagen ist, als eine feste, unabänderliche Tatsache hinzunehmen ist, gegen deren Wirkungen es vergebens ist, Sturm zu laufen. Solange das Proletariat noch schwach ist, ist es auch richtig, daß nicht eine Einzelerscheinung – wie Krieg, Teuerung, Arbeitslösigkeit – zu beseitigen ist, während übrigens der Kapitalismus in aller Kraft weiter besteht. Das wird aber unrichtig für die Periode des untergehenden Kapitalismus, in der das machtvoll emporgestiegene Proletariat gegen diese Elementargewalten seinen eigenen Willen und seine Kraft als eine andere Elementargewalt des Kapitalismus zum Sozialismus dem Genossen Kautsky „reichlich unklar und geheimnisvoll“ dünkt – deshalb, weil er Kapitalismus und Sozialismus als fertige, feste Dinge ansieht und ihren Übergang nicht als einen dialektischen Prozeß erfaßt. Wo das Proletariat jetzt gegen die Einzelwirkungen des Kapitalismus Sturm läuft, bedeutet jede dieser Aktionen eine Schwächung der Kapitalmacht, eine Stärkung der eigenen Macht, einen weiteren Schritt in dem Prozeß der Revolution.

6. Der Marxismus und die Rolle der Partei

Zum Schlusse noch ein paar Worte über die Theorie. Sie sind nötig, weil ein paarmal in Kautskys Ausführungen leise Andeutungen gemacht wurden, als hätten wir mit unseren Darlegungen den Boden des Marxismus, der materialistischen Geschichtsauffassung verlassen. Das eine Mal, wo er unsere Auffassung des Wesens der Organisation als – für einen Materialisten sonderbaren – Spiritualismus bezeichnet. Das andere Mal, wo er unsere Auffassung, daß das Proletariat „im stetigen Angriff und Vorwärtsdrängen“, in Von Aktion zu Aktion sich steigerndem Klassenkampf seine Macht und seine Freiheit aufbauen muß, dahin interpretiert, der Parteivorstand solle die Revolution „veranstalten“…

Der Marxismus erklärt alles Handeln der Menschen in Geschichte und Politik aus den materiellen, insbesondere den wirtschaftlichen Verhältnissen. Ein immer wiederkehrendes bürgerliches Mißverständnis wirft uns vor, daß wir dabei den menschlichen Geist ausschalten, den Menschen zum toten Werkzeug, zum Marionetten wirtschaftlicher Kräfte machen. Demgegenüber heben wir immer hervor, daß der Marxismus den Geist nicht ausschaltet. Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Geist hindurch. Ihr Handeln wird durch ihren Willen, durch alles, was in ihrem Geiste als Idee, Prinzipien, Beweggründe lebt, bestimmt. Aber der Marxismus sagt, daß dieses Geistige in dem Menschen völlig ein Produkt der ihn umgebenden materiellen Welt ist, daß also die wirtschaftlichen Verhältnisse nur dadurch sein Handeln bestimmen, daß sie auf seinen Geist einwirken und seinen Willen bestimmen Die soziale Revolution als Folge der kapitalistischen Entwicklung kommt nur dadurch zustande, daß die wirtschaftliche Umwälzung zuerst den Geist des Proletariats umgestaltet, ihm einen neuen Inhalt gibt und seinen Willen in diese Richtung lenkt. Sowie die sozialdemokratische Betätigung ausdrückt, wie eine Einsicht und ein neuer Willen den Geist des Proletariats erfüllt, so ist auch die Organisation Ausdruck und Wirkung einer tiefen geistigen Umwälzung des Proletariats. Diese geistige Umwälzung ist das Mittelglied, durch das hindurch die wirtschaftliche Entwicklung zur Tat der sozialen Revolution führt. Über diese Rolle des Geistes im Marxismus wird zwischen Kautsky und uns keine Meinungsverschiedenheit herrschen.

Allerdings liegt auch hier noch eine Differenz zwischen uns vor; nicht in der abstrakt-theoretischen Formulierung, sondern in der praktischen Betonung. Wenn wir zuerst den Satz aussprechen: „Die Menschen werden in ihrem Handeln völlig durch die materiellen Verhältnisse bestimmt“, und dann den anderen: „Aber die Menschen müssen ihre Geschichte selbst machen durch ihr eigenes Handeln“ – so bilden sie zusammen erst die ganze Marxistische Auffassung. Der erste schließt die Willkür aus, als könnte man eine Revolution nach Belieben machen; der zweite beseitigt den Fatalismus, als hätten wir nur abzuwarten, bis in wunderbarer Weise aus irgendeiner Reife der Entwicklung die Revolution von selbst emporschießt So richtig beide Sätze theoretisch sind, werden sie doch notwendig im Laufe der Entwicklung verschieden betont. Solange die Partei sich noch im ersten Emporsteigen befindet, das Proletariat erst sammeln muß und das Ziel ihrer Tätigkeit vor allem in ihrer eigenen Entwicklung sucht, gibt ihr die im ersten Satze enthaltene Wahrheit die Geduld für den langsamen Aufbau, das Bewußtsein der Vergeblichkeit aller vorzeitigen Putsche und die ruhige Sicherheit des endlichen Sieges. Dann trägt der Marxismus einen vorwiegend historisch-ökonomischen Charakter; dann ist er die Lehre der ökonomischen Bestimmtheit aller Geschichte und prägt uns ein, daß man die Verhältnisse ausreifen lassen muß. In dem Maße aber, wie das Proletariat sich zu einer Massenbewegung sammelt, imstande, in das gesellschaftliche Leben tatkräftig einzugreifen, muß immer mehr das Bewußtsein des zweiten Satzes emporsteigen. Dann drängt sich der Gedanke nach vorn, daß es darauf ankomme, die Welt nicht einfach zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Dann wird der Marxismus zur Theorie der proletarischen Aktion. Dann treten die Fragen, wie sich in Einzelheiten Geist und Willen des Proletariats unter dem Einfluß der Verhältnisse entwickeln und wie die verschiedenen Einflüsse sie gestalten, in den Vordergrund; dann wird das Interesse für die philosophische Seite des Marxismus, für das Wesen des Geistes lebendig. So werden zwei Marxisten, die unter dem Einfluß dieser verschiedenen Stufen stehen, sich verschieden äußern, indem der eine vor allem die Bedingtheit, der andere vor allem die Aktivität des Geistes betont; sie werden ihre Wahrheiten gegeneinander ins Feld führen und doch derselben marxistischen Theorie huldigen.

Von praktischer Bedeutung ist hier aber eine ganz andere Differenz. Wir stimmen Kautsky vollkommen bei, daß eine Person oder Gruppe nicht die Revolution machen kann. Kautsky wird uns genau so beistimmen, daß das Proletariat die Revolution machen muß. Wie steht es nun aber mit der Partei, die ein Mittelding ist, einerseits eine große Gruppe, die bewußt ihre Aktionen beschließt, andererseits die Vertreterin und Führerin des ganzen Proletariats ist? Was ist die Aufgabe der Partei?

Kautsky drückt sie, soweit es sich um die Revolution handelt, in der Darlegung seiner Taktik folgendermaßen aus: „Anwendung des Zwangsmassenstreiks, aber nur in seltenen, äußersten Fällen, nur dann und dort, wo die Massen nicht mehr zu halten sind“ (S. 697). Also, solange die Massen noch zu halten sind, soll die Partei sie halten; solange es nur irgendwo möglich ist, soll sie ihre Ausgabe darin erblicken, die Massen ruhig zu halten, sie von Aktionen abzuhalten; nur wenn es nicht mehr geht, wenn die Volksempörung alle Schranken niederzureißen droht, öffnet sie die Schleusen und stellt sich womöglich an die Spitze. Die Rollen sind also derart verteilt, daß alle Energie, alle Aktivität, aus der die Revolution entspringt, aus den Massen kommen muß, während die Partei diese Aktitvität möglichst lange niederzuhalten, zu hemmen, zu bremsen hat.

So darf man aber ihr Verhältnis nicht auffassen. Gewiß kommt alle Aktivität aus den Massen, die durch die Unterdrückung das Elend, die Rechtlosigkeit zur Empörung, zur revolutionären Tatkraft aufgestachelt werden und dann durch ihre Angriffe die Kapitalherrschaft beseitigen müssen. Aber die Partei hat sie darüber belehrt daß Verzweiflungsausbrüche einzelner oder einzelner Gruppen machtlos sind und daß nur gemeinsames, geschlossenes, organisiertes Handeln Erfolge bringen kann. Sie hat die Massen diszipliniert und von fruchtloser Verzettelung ihrer revolutionären Energie zurückgehalten. Aber das ist natürlich nur die eine, die negative Seite ihrer Wirkung; denn positiv bedeutet es, daß die Partei zugleich den Weg zeigt, diese Energie in einer anderen erfolgreichen Weise anzuwenden, und dort vorangeht. Die Massen haben einen Teil ihrer Energie, ihrer revolutionären Willenskraft der organisierten Gesamtheit der Partei gleichsam übertragen, nicht damit er verloren geht, sondern damit die Partei ihn als ihren Gesamtwillen betätigt. Was die Massen dabei an Initiative und spontaner Aktionskraft verlieren, ist kein wirklicher Verlust, sondern kommt an einer anderen Stelle in anderer Form als Initiative und Aktionskraft der Partei wieder zum Vorschein; es findet gleichsam eine Transformation der Energie statt. Die Massen bleiben, auch wenn in ihnen – wie zum Beispiel bei der Teuerung – die höchste Empörung aufflammt, doch ruhig, weil sie darauf rechnen, daß die Partei sie zu Aktionen aufrufen wird, in denen ihre Energie am zweckmäßigsten und erfolgreichsten angewandt wird.

Daher kann das Verhältnis von Masse und Partei nicht sein, wie Kautsky es darstellt. Würde die Partei es als ihre Aufgabe betrachten, die Massen solange als es nur geht von Aktionen zurückzuhalten, bedeutete die Parteidisziplin den Verlust an Initiative und spontaner Aktionskraft der Massen, einen wirklichen Verlust, statt eine Transformation der Energie. Dann bedeutete die Existenz der Partei eine Schmälerung der revolutionären Kraft des Proletariats statt ihre Stärkung. Sie kann sich nicht einfach hinstellen und abwarten, bis die Massen, denen sie einen Teil ihrer spontanen Kraft genommen hat, trotzdem aus sich selbst losbrechen; die Disziplin, das Vertrauen in ihre Führung, das die Massen ruhig hält, stellt ihr die Aufgabe, aktiv einzugreifen und selbst die Massen im richtigen Augenblick zu Aktionen auszurufen. Die Partei hat also, wie wir schon darlegten, in der Tat die Aufgabe, revolutionäre Aktionen zu veranstalten , weil sie die Trägerin eines wichtigen Teiles der Aktionskraft der Masse ist – aber sie kann das nicht nach Willkür zu beliebiger Zeit, weil sie nicht den ganzen Willen des ganzen Proletariats restlos in sich aufgenommen hat und es also nicht wie Soldaten aufmarschieren lassen kann. Sie hat den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten – nicht bis die Massen nicht mehr zu halten sind und von selbst losbrechen, sondern – bis die Verhältnisse eine so große Erregung und Leidenschaft in den Massen wachrufen, daß große Massenaktionen gelingen können. In solcher Weise verwirklicht sich jetzt die marxistische Lehre, daß die Menschen, durch die ökonomische Entwicklung bestimmt und getrieben, selbst ihre Geschichte machen. Die revolutionäre Kraft, die in der Erregung der Massen, Wirkung der Unerträglichkeit des Kapitalismus steckt, darf nicht unbenutzt bleiben und damit verloren gehen; sie darf sich auch nicht in unorganisierten Ausbrüchen verzetteln, sondern sie muß in organisierter Weise, in von der Partei veranstalteten Aktionen für das Ziel, die Kapitalherrschaft zu schwächen, nutzbar gemacht werden. In dieser revolutionären Taktik wird die marxistische Theorie zur Tat.

[Fortsetzung]


Anmerkungen

*) Zu dem, was wir über die Bekämpfung der Kriegsgefahr und den Gegensatz unserer Anschauungen über Krieg und Proletariat in der „Leipziger Volkszeitung“ 11. September aus-führten, haben wir nichts hinzuzufügen als nur dies eine: Kautsky weist auf die englischen Arbeiter beim Burenkrieg, die russischen in 1904 und die italienischen in 1911 hin, die den Krieg nicht verhinderten, und er spöttelt darüber, daß dieser von mir behauptete „unvermeidliche“ Versuch der Arbeiter bisher immer ausblieb. Er läßt dabei völlig aus der Auge, daß es sich in all diesen Fällen nicht um einen europäischen Krieg, sondern um einen Kolonialkrieg handelte, bei dem von einer gewaltigen wirtschaftlichen Katastrophe im eigenen Lande gar keine Rede sein konnte. Solche wesentlichen Unterschiede durfte ein Mann wie Kautsky nicht aus dem Auge verlieren.


Compiled by Vico, 20 February 2021