Home | Contact | Links       
Antonie Pannekoek Archives


Thema: Entwicklung in Natur und Gesellschaft


Die Entstehung des Menschen / Anton Pannekoek, 1909


Quelle:  Die Entstehung des Menschen / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 53, 30. Januar 1909; publiziert in: Leipziger Volkszeitung, 30. Januar 1909; Transkription 7. Juli 2019.


Unter den grossen geistigen Errungenschaften des 19, Jahrhunderts steht die Darwinsche Entwicklungslehre, die den Menschen als Spross des Tierreichs erkennen liess, mit an erster Stelle. Die alte in religiösen Dogmen festgelgte Auffassung sah eine unüberersteigbare Kluft zwisschen Mensch – zoologisch betrachtet is er einfach eine Affenart – aber er besitze eine unsterbliche Seele und müsse also das Objekt einer besonderen Schöpfung Gottes gewesen sein. Diese „unsterbliche Seele“ war der Ausdruck des grossen geistigen Gegensatz zwischen Mensch und Tier.

Der Darwinismus hat über diese Kluft eine Brücke geschlagen. Aber nicht in der Weise, dass er den Gegensatz erklärte, und die Entstehung des menschliche Geistes aufdeckte. Nein, seine Vertreterhaben aus den körperlichen Eigenschaften des Menschen abgeleitet, dass er von dem Prinzip der Entwicklung aller Tierarten aus einander keine Ausnahme bildet, und daraus schlossen sie, dass auch der Menschengeist sich in natürlicher Weise aus dem Tiergeist entwickelt haben muss. Damit hatten sie vollständig Recht; aber sie liessen dabei dei eigentliche Frage, wie der Mensch als geistiges Wesen entstanden ist, ungelöst. Dier Mangel wird jetzt von den Vertretern der christlichen Weltanschauung weidlich dazu ausgenutzt, die übernatürliche Schöpfung des Menschen gegen den Darwinismus zu behaupten: körperlich mag der Mensch, sagen sie, vom Affen abstammen, aber der grosse geistige Unterschied erfordert immerhin eine spezielle Schöpfung des Menschegeistes in dem Affenkörper.

Der Unterschied der geistigen Fähigkeiten des Menschen und der Tiere wurde früher dadurch ausgedrückt, dass die Menschen Verstand die Tiere aber nur Instinkt besitzen. Unter dem Einfluss der darwinistischen Lehre wurde dann dieser grundsätzliche Gegensatz verneint; aquch die Tiere haben Verstand. Die Verwisschung jedes Unterschiedes wurde noch dadurch gefördert, dass man beim Beobachten der Handlungen der Tiere ihnen unwillkürlich unsere eigenen Gedanken und Motive zuschreibt. Es ist deshalb nötig, den wirklichen Unterschied zwischen der menschlichen und der tierischen Verstandestätigkeit festzustellen.

Der Mensch denkt mittels abstrakter Begriffe, Vorstellungen, die sein Geist sich aus früheren Erfahrungen gebildet hat. Überlegen, Schlüsse ziehen heisst deas, was man beobachtet, mit denk vorhandenen Begriffen im Kopfe vergleichen, es darin einreihen. Der Mensch wird gerade so wie das Tier durch das, was er sieht und empfindet, zum Handeln gereizt; aber bei ihm schiebt sich eine lange Kette an einander schliessender Überlegungen dazwischen, sodass dem Scheine nach seine Taten nur durch eigene, freie, aus sich selbst entstandene Gedanken bstimmt werden. Wenn der Arbeiter in die Versammlung geht oder ein Wahlzettel abgiebt, um damit dem Sozialismus zu fördern, hat das dem Scheine nach nichts mit seinem Hunger zu tun; die Verbindung wird erst durch eine lange Kette von Gedanken und Kenntnissen hergestellt. Zwar springt auch nicht jedes Tier bei dem Anblick der Beute mechanisch darauf los: wo es zum Fangen nötig ist, schlägt es einem Umweg ein; aber diese zweckmässige Handlungsweise hat sich durch Ererbung zu einer festen Gewohnheit versteinert. Bei dem Menschen liegt dagegen der einzuschlagende Weg nicht fest; die verschiedensten Vorstellungen werden im Kopfe in die Kette eingepasst, gedanklich versucht, und die am Besten erscheinen, werden beibgehalten. Darin besteht das gefühl des freien Handelns und Wählens beim Menschen.

Durch die Begriffe in unserem Kopfe unterscheiden und trennen wir die einzelnen Dinge, die Arten, und die Teile der Welt. Dem Tier muss die umgebende Welt wie ein Ganzes anstarren, das er nicht in den einzelnen Teilen aufzulösen vermag. Wir sehen dagegen dans Ganze zugleich als eine unendliche Vielheit, aus der wir in unserer Vorstellung willkürlich einen Teil herausheben und in einer anderen Lagen denken können. Daher können wir mit Bewusstsein die Dinge zu unseren Zwecken benutzen, denn wir haben im Voraus schon im Kopfe, was die Tat nachher verwirklicht. „Was von vornher ein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut“ (Marx).

Wie ist dieses Vermögen entstanden? Das abstrakte Denken bildet nicht den einzigen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Nur der Mensch besitzt eine Sprache, die die Dinge und Tätigkeiten mit bestimmten Lauten, mit Namen bezeichnet. Nur der Mensch ist ein Werkzeugefabrizierendes Tier. Est liegt auf der Hand, dass diese verscheidenen Merkmale nicht unabhängig von einander entstanden sind. Sprache und Denken sind untrennbar; wir können nur mit Worten denken; die abstrakten Begiffe, die die Teile der Welt darstellen, sind nur als Namen festzuhalten.

Auch das Werkzeug steht mit dem Denken in engstem Zusammenhang. Ohne das abstrakte Denken, ohne die Vorstellung, wie die Dinge in anderer Lage auf einander wirken werden, ist die zweckmässige Anwendung eines Werkzeugs, und noch mehr seine Anfertigung im Voraus, unmöglich. Und umgekehrt regt das Werkzeug das Denken an. Die Werkzeuge werden zwischen uns und den zu ergreifenden Naturdingen eingeschoben, sodass die Befriedigung der Lebensbedürfnisse auf einen Umweg aneinanderschliessender Handlungen stattfindet; dieser Umweg bringt den Umweg im Denken mit sich. Dass der darbende Arbeiter in die Versammlung geht, anstatt Baumfrüchte zu suchen, kommt daher, dass die hoch[?]entwickelte Technik eine Befriedigung der Bedürfnisse nur auf dem Wege einer vorherigen politischen Revolution zulässt.

Das Werkzeug hat den Geist aus seinem Schlummer geweckt. Zuerst als roher Stein instinctiv, zufällig ergriffen und wieder weggeworfen, gewöhnt es den Geist allmählig daran, beim Anblick einer Beute den Umweg über ihm zu nehmen und bewusst nach ihm zu greifen. Durch die Hand, dem Auge sichtbar, geführt, hebt er sich aus der übrigen Welt heraus, wird mit dem Laut der Tätigkeit bezeichnet und durch diesen Namen festgehalten. So treten die Merkmale des Menschengeistes als erswte kaum merkbare Spuren mit den ersten Anfängen des Werkzeuggebrauchs hervor. An einander und durch einander entwickeln sich dann beide; der erwachende Geist gestaltet den Gebrauch, und dann die absichtliche Anfertigung der Werkzeuge immer bewusster, die Ausbildung und Differenzierung der Werkzeuge entwickelt die Begriffe und Vorstellungem im Geiste.

Die Vorbedigungen zu dieser Entstehung des Menschen, die aus der Tierwelt mitgebracht wurden, sind das gesellschaftliche Zusammenleben und die Affenhand. Nur in einer Gesellschaft kann eine Sprache als Verständigungsmittel bei der gemeinsamen Tätigkeit entstehen, nur in einer Gesellschaft kann die Technik sich entwickeln. Die Affenhand war das einzige Organ, geeignet, bei einer Änderung der Lebensweise unter der Kontrolle des Auges Werkzeuge zu führen.

Die Entstehung des Menschen, auch derjenigen Merkmale, die ihn vom Tier unterscheiden, des Denkens, des Werkzeugs und der Sprache haftet also nichts Übernatürliches an. Die Umstände, die unsere affenähnliche Vorfahren aus dem Urwald in die Ebene trieben, ihnen eine neue Lebensweise aufzwangen und ihnen dabei gewissenmaassen die erste Steine in die Hand drückten, haben den Stoss gegeben, der in unaufhörlicher Entwiklung zum modernen Menschen führt. Werkzeug und Denken, Technik und Wissenschaft, die jetzt noch die Grundlage unserer Gesellschaft bilden, sind von den Uranfängen an die einander bedingenden Momente dieser Entwicklung gewesen.

(ap)


Compiled by Vico, 6 July 2019