Home | Contact | Links       
Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Volksinteresse und Massenaktion / Anton Pannekoek, 1912


Quelle:  Volksinteresse und Massenaktion / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 247, 26. Oktober 1912


Durch die moderne Entwicklung des Kapitalismus, die den Kampf der Klassen verschärft, werden die Massenaktionen immer mehr zu den wichtigsten politischen Kräften, die die Geschicke der Völker bestimmen. Daher ist es für das kämpfende Proletariat von größtem Interesse, das Wesen, die Bedingungen und die Wirkungen dieser Aktionen klar zu erkennen.

Unsere Feinde, denen bei solchen neuen Kampfmitteln des Proletariats, deren Kraft sie zwar nicht kennen, aber doch instinktiv fürchten, etwas unheimlich zumute wird, suchen sie als Zeichen sittlicher Verdorbenheit zu verdonnern. Den reaktionären und staatsfrommen Anbetern der Autorität sind solche Aktionen eine moderne Form der Rebellion gegen unsere Reichsherrlichkeit; die liberalen Fortschrittler klagen sie als einen Verstoß gegen die Demokratie, als einen Verweis mangelnden demokratische Empfindens an. Denn beide sind sich darin einig, daß die Massenaktionen Versuche einer Minderheit darstellen, der Mehrheit des Volkes gewaltsam ihren Willen aufzuzwingen.

So sehr aber die bürgerliche Welt aller Richtungen sich darin einig ist, so sehr ist sie im Unrecht. Sie läßt sich durch die Erinnerung and ihre eigene Geschichte irreführen, in der die Gewalt immer das Mittel der Minderheit was, die Volksmehrheit zu unterwerfen un die heutige Staatsordnung zu festigen. Aber die Praxis jeder proletarischen Massenaktion kann ihr zeigen, daß das für die proletarische Volksmasse nicht mehr gilt. Die Mittel, die sie anwendet, bleiben völlig innerhalb der gesetzlichen bügerlichen Ordnung. Denn welches sind diese Mittel? Versammlungen, zusammen durch die Straßen ziehen, vielleicht mit Fahnen und Schildern, schließlich die Arbeitsniederlegung – alles die unbestrittensten, erlaubtesten, gesetzlichsten Dinge der Welt. Nur dadurch kann die herrschende Klasse ihnen einen Schein der Ungesetzlichkeit geben, daß sie selbst zuerst, z.B. durch Belagerungszustand, willkürliche Verbote oder Entziehung des Streikrechts den Boden der bürgerlichen Ordnung verläßt. Darin liegt die Kraft dieser wie jeder proletarischen Kampfmethode – denn auch die Kraft des Parlamentarismus beruht darauf – daß sie ohne die geringste Verletzung der Rechtsgrundlagen der bürgerlichen Gesellschaft ihre volle Macht entfalten kann.

Ist es also mit der Gewaltsamkeit der Massenaktionen nichts, so ist es ebensowenig richtig, daß sie eine Aktion der Minderheit Bilden, die die Volksmehrheit zu terrorisieren sucht. Umgekehrt beruht die Kraft der Massenaktion darauf, daß sie das Interesse der weitesten Volkskreise vertritt. Nur die Lebensinteressen der großen Volksmasse, der Volksmehrheit, sind geeignet, um als Losung und Anlaß zu Massenaktionen zu dienen.

Nun gilt dasselbe allerdings für die ganze Sozialdemokratische Politik; denn sie vertritt auch das Interesse der Massen der Mehrheit. Aber hier ist das Volksinteresse in der Gestalt eines allgemeinen Programms, eines vollenderen Ideensystems, einer neuen Weltanschauung ausgedrückt, die zu den alten überlieferten Ideologien in Widerspruch stehen. Den ganzen Sozialismus anerkennen, sei es auch nur durch die einfache Tat des roten Stimmzettels, erfordert schon mehr Nachdenken, mehr Überwindung alter Ideen als das Erkennen eigenen Interesses in einer einfachen praktischen Frage. Kautsky hat in seinem Werke „Parlamentarismus und Demokratie“ darauf hingewiesen, wie darin gerade die Bedeutung des parlamentarischen Kampfes liegt im Gegensatz zu der direkten Volksabstimmung über Gesetze. Denn er nötigt die Menschen, tiefer nachzudenken und die Wahl zwischen den Parteien zu treffen auf Grund ihrer gesamten Haltung bei allen Fragen, und darin liegt der politisch erzieherische Wert des Parlamentarismus.

Bei der Massenaktionen kommt es jedoch darauf an, ein direktes Resultat in einer Einzelfrage zu erzielen. Da tritt die Macht einer einfachen klaren Losung hervor, die von der Massen rasch als ihr Interesse erkannt wird, ohne daß eine große politische Durchbildung oder sozialistische Einsicht nötig ist. Die sozialdemokratischen Arbeiter bilden die Vorhut, die Kerntruppen, die die Losungen aufstellen und ausgeben und daher die Initiative und die Führung im Kampfe haben. Aber diese Losungen bilden die unmittelbarsten offesichtlichsten Lebensinteressen der großen Masse; nun daher kann sie sich anschließen und kann die Aktion zur Massenaktion werden. So ist die Losung des Wahlrechtskampfes, das allgemeine Wahlrecht für Preußen, sicher ein Interesse der ganzen großen unbemittelten Volksmasse, die jetzt entrechtet wird. Der Kampf gegen die Teuerung geht nicht bloß die kämpfenden Arbeiter an, sondern die weitesten Volkskreise bis weit in die bürgerlicht Welt hinein. Und auch die Kriegsgefahr bedroht die Lebensinteressen der ungeheuren Volksmehrheit, so daß unsere Losung „Nieder mit dem Krieg!“ ein Echo weit außerhalb der Grenzen unserer Partei finden wird.

Diese Tatsache, daß die Lösungen der Massenaktionen Zustimmung in Volksschichten finden können, sie sonst politisch noch nicht für die Sozialdemokratie gewonnen sind, führt bisweilen zu der falschen Auffassung, als führen wir darin zusammen mit einem Teil unserer bürgerlichen Gegner – den fortschrittlichen Liberalen – einen Kampf gegen den anderen Teil der herrschenden Klasse – die reaktionären Junker. Dieser Auffassung liegt die sonderbare Idee zugrunde, daß die von uns noch nicht gewonnenen Massen von Natur aus der bürgerlichen Partei angehören, für die sie zuletzt stimmten, und daß die Teilnahme dieser Massen an unseren Aktionen unsere Bundesgenossenschaft mit jener Partei bedeutet. Sie gehört zu der bekannten revisionistische Theorie, daß ein Teil der Bourgeoisie die Reaktion der Junker drückend empfindet, daß er mit dem Proletariat zusammen Reaktion und Junkerherrschaft beseitigen und einen freien, fortschrittlichen, liberalen, arbeiterfreundlichen Kapitalismus etablieren wird.

Die Unhaltbarkeit dieser Theorie ist schon oft genug dargetan. Die Reaktion und die Junkerherrschaft wurzeln nicht in der Rückstandigkeit, sondern in der hohen Entwicklung des deutschen Kapitalismus. Die Bourgeoisie braucht eine starke reaktionäre Regierungsgewalt gegen die schwellende proletarische Macht; sie befindet sich in der Lage der Bürger einer belagerten Stadt, die sich von dem Militär regieren und vieles gefallen lassen muß. Er mag die Junker hassen und auf sie schimpfen, aber die Furcht vor dem Proletariaat lähmt jeden Versuch, sie ernsthaft zu bekämpfen. Rechts mag ein Gegner stehen, aber links steht der Feind! Wie seht diejenigen, die im Kampfe gegen die Reaktion auf den liberalen Teil der Bourgeoisie rechnen, sich falschen Illusionen hingeben, hat vor kurzem der Mannheimer Parteitag der Fortschrittpartei gezeigt.

Einigermaßen anders mag er für einige Theoretiker des Liberalismus liegen denen der politischen Kampf gegen das Junkertum als ein Kampf abstrakter Anschauungen erscheint. Sie mögen ein bißschen das Zusammengehen mit den Sozis predigen, vor allem, wenn damit die Massen eingelullt werden können. Aber sobald die Theorie zur Praxis werden soll, ziehen die harten Tatsachen des Klassen gegensatzes ihre Politik eine Grenze, die die Theorie zur Phrase macht.

Völlig anders liegt die Sache jedoch für die Massen die hinter ihnen stehen. Ihnen fehlt die allgemeine politische Einsicht, daß sie zu uns gehören. Zum Teil ist das in ihrer Klassenlage begründet; die Mittelschichten des Kleinbürgertums und der Angestellten haben zwar manchen proletarischen Zug, aber zugleich steckt in ihren ökonomischen Verhältnissen so viel Bürgerliches, daß sie sich nur langsam und schwer in der sozialistische Weltanschaung zurechtfinden. Ihre Ideeen sind bürgerlich, aber ihre wesentlichen praktischen Interessen haben sie mit dem Proletariat gemeinsam. In den Zielen der Massenaktionen tritt ihnen selbst diese Gemeinsamkeit klar vor die Augen; diese Aktionen bilden daher eine Brücke, über die sie ahnlich wie die fernstehenden Arbeiterschichten den Weg zu uns finden. Sie schließen sich nicht an weil sie bürgerlich freisinnig sind und daher mit uns zusammengehen wollen; sie schließen sich an weil unsere Zielen auch ihre Interessen sind, weil sie, obgleich bürgerlich an Ideeen, doch im hohen Maße proletarisch an Charakter sind. Ihre Teilnahme an den Massenaktionen bedeutet nicht daß die Partei, für die sie stimmten, mit uns geht, sondern es bedeutet, daß wir sie dieser Partei abspenstig machen.

Was in den Massenaktionen verfochten wird, ist das Interesse der großen Volksmasse, die sich deshalb auch im Laufe der Aktion immer kräftiger beteiligt. Weil aber die Sozialdemokratie die Führerin in diesen Aktionen ist, wirken sie zugleich dahin, die Massen immer mehr für unsere Partei zu gewinnen.


Compiled by Vico, 4 September 2020