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Antonie Pannekoek Archives


Thema: Massenstreiks oder Generalstreiks? Betriebsorganisationen oder Gewerkschaften?


Der Weg des Kampfes


Quelle:  Der Weg des Kampfes / A[nton]. P[annekoek]. – In: Zeitungskorrespondenz, Nr. 335, 11. Juli 1914.


Wer die immer frecherer Verstoße der Reaktion in Deutschland verfolgt, und namentlich die Versuche, die Organisationen der Arbeiter zu lähmen, sie mit gefesselten Händen der Unternehmern auszuliefern und ihnen das Koalitionsrecht zu rauben, wird sich selbst die Frage vorlegen: weshalb ist gerade jetzt das reaktionäre Kesseltreiben so stark? Die Junker wissen doch nur allzu gut: daß, wenn sie die Massen zur Verzweiflung und zur Empörung treiben, der Ausgang der Auseinandersetzung für sie höchst unerwünscht sein könnte; daß sie die Arbeiterklasse nicht dauernd niederwerfen können, ist ihnen so gut bekannt wie uns; weshalb geben sie nicht mit dem ruhigen Genuß und der Vorteilen ihrer noch unbeschnittenen Herrschaft zufrieden? Es ist schon früher darauf hingewiesen worden, daß sie nicht anders können, weil hier ein unmittelbares Bedürfnis der Augenblickspolitik vorliegt. Die Furcht der Junker vor der Abbröckelung der Agrarzölle treibt sie dazu, mit Hochdruck eine Sammlungspolitik zu betreiben, und die beste Losung zu Sammlungspolitik ist der Kampf gegen die Arbeiterkoalitionen. Die russische Agrarpolitik bedroht die Getreidezölle und Einfuhrscheine; würden sich jetzt die bürgerlichen Schichten der Stadtbevölkerung ihres Interesses an niedrige Lebensmittelpreise ; würden sich jetzt die bürgerlichen Schichten der Stadtbevölkerung ihres Interesses an niedrige Lebensmittelpreise bewußt werden und sich in eine Front mit dem Proletariat stellen, so wäre es mit dem Zollwucher der Junker aus. Deshalb arbeitet das Agrariertum fieberhaft, alle Vertreter der bürgerliche Parteien politisch an sich zu ketten; die Geschichte von 1877, als die Sammlung gegen den roten Umsturz den Schutzzoll erst ermöglichte, soll sich wiederholen. Daher wird ein Kampfobjekt vorgeschoben, das das ganze Bürgertum in einen scharfen Gegensatz zu den Arbeitern bringt; die Kampffähigkeit der Arbeiterorganisationen weckt Haß und Furcht bei Kleinmeistern sowohl wie bei Kapitalisten, und diese Kampffähigkeit zu lähmen, ist ihr gemeinsamer Wunsch. Das ist der Hintergrund der emsig betriebenen „Sammlungspolitik“, die jetzt in Blüte steht: das Portemonnaie der Agrarier läuft Gefahr; das Koalitionsrecht ist das vorgeschobene taugliche Objekt, aber der Zollwucher is das unausgesprochene Ziel. Daher auch die Hetze über die Kaiserhochdemonstration; würde das Proletariat jedoch, wie es Heine und seine Freunde empfehlen, in dieser Frage zurückweichen, um den Sammlungspolitikern nicht in die Karten zu spielen, so bedeutete das nichts anderes, als mit einem Kotau, der die Frachheit der Angreifer nur ermutigen könnte, die Hilfe des Bürgertums erbitten zu wollen.

Aber es genügt nicht, daß das Proletariat aufrecht steht und trotzig ruft: wagt es nur! Denn sie wagen es schon; nicht in der Weise, daß durch ein Ausnahmegesetz die Massen zu einem gewaltigen Ausbruch getrieben werde, sondern indem sie ihre Rechte langsam, stückweise verringern. Fuß für Fuß dringt die Reaktion weiter vorwarts.

Hier zeigt sich, daß die vielgepriesene Taktik der abwartenden Defensive doch nicht so vorzüglich ist, wie ihre Verteitiger vorgeben. Eine kleine entschlossene Schar kann durch diese Taktik oft ihre Positionen gegen eine Übermacht behaupten; hier aber sehen wir, wie das Proletariat von Position zu Position zurückgedrängt wird, ohne sie behaupten zu können. Und schlimmer noch wird es, wenn durch dieses Zurückweisen die Massen anfangen, den Mut und das vertrauen zu verlieren, wodurch die eigne Macht, die klare Zuversicht, die Organisationsfestigkeit Schaden leiden. Hier hat die Arbeiterschaft von dem Gegner zu lernen, daß der Anfriff die beste Verteitigung ist. Sie kann sich nicht in die Ecke drängen lassen, um dann erst zu einem wuchtigen Schlag auszuholen. Und die dargelegten Zusammenhänge zeigen klar, wie und wo der Angriff zu erfolgen hat. Das Proletariat kann die Pläne der Junker nicht besser durchkreuzen, als indem es seinen Angriff auf den schwächsten Punkt des Gegners richtet, von dem dieser die Aufmerksamkeit abzulenken sucht, und einen energischen Kampf gegen die Zölle einleitet. Wenn das Proletariat seine ganze Macht auf die Beine bringt und sie auf ein Objekt konzentriert, dann wird dieses Objekt damit von selbst zum Mittelpunkt der Politik – so vor einigen Jahren das preußische Wahlrecht. Durch einen solchen Anfriff kann die Sammlung des Bürgertums in der bösesten Weise gestört werden, und damit wäre dann unseren bedrängten Position, der Koalitionsfreiheit, Luft gemacht worden. Müssen die Junker ihre Zölle mit aller Macht verteitigen, sind sie in die Defensive gedrängt, dann können sie nicht mehr daran denken, alle Kraft auf die Lahmlegung der Organisationen der Arbeiter zu richten.

Einer der besten Kenner der Einzelheiten der politischen Entwicklung Deutschlands, dessen Ausführungen um so mehr Aufmerksamkeit verdienen, als sie vielfach von den üblichen Schema abweichen, Genosse Laufenberg, betont in seinem Werk über den politischen Streik mit großem Nachdruck diesen Unterschied der beiden Hauptobjekte der Politik der kommenden Jahre. Der Kampf um das Koalitionsrecht sammelt die ganze besitzende Klasse und isoliert die Arbeiter; der Kampf um die Zölle läßt tiefe Interessengegensätze innerhalb der bürgerlichen Masse zum Vorschein kommen, sprengt ihre Sammlung und stellt einen Teil neben die Arbeiter. Wenn wir diesen Gegensatz auch nicht so schroff stellen möchten – in jeder Aktion des Proletariats liegt eine Ursache der Sammlung und auch eine Ursache der Zersplitterung des Gegners, und gerade weil der Abbau des bestehenden Zollsystems an alle Verhältnisse der bestehenden Gesellschaft rüttelt, liegt darin eine Kraft, die ganze besitzende Klasse zusammenzuhalten – so ist er praktisch doch vollkommen richtig. Und daraus ergibt sich als notwendige Taktik der Partei, daß sie jetzt mit aller Wucht den Angriff auf das herrschende Schutzzollsystem zu führen hat.

Aber auch ohne diese Zusammmenhänge liegt die Notwendigkeit dieses Anfriffs auf der Hand. Zwölf Jahre sind seit den vorigen Zollkämpfen ins Land gegangen. Jahre der gewaltigsten Preissteigerung und der Teuerung, die die kleinbürgerlichen und arbeitenden Massen aufs Schwerste belasteten. Welch eine Erbitterung hat damals die agrarische Wucherpolitik ausgelöst! Aber man könnte nichts machen, weil an den Zollsätzen bis zu der Erneuerung der Handelsverträge nicht zu rütteln war. Jetzt aber müssen diese neuert werden; jetzt ist die richtige Zeit zum Eingreifen da, jetzt ist es Pflicht der Sozialdemokratie als Wortführerin der Massen, den lange angehäuften Groll in politische Taten umzusetzen. Noch nie war die Gelegenheit so günstig: während früher die Agrarzölle Abwehrmittel gegen sinkende Getreidepreise waren, sind sie jetzt unter der Herrschaft steigender Weltmarktpreise immer widersinniger geworden.

Natürlich müßte dabei der Kampf nicht einfach den Parlamentariern überlassen werden; die parlamentarischen Kampfmittel sind gerade bei den Zolldebatten im Jahre 1902 erheblich geschwächt worden. Hinter unserer Fraktion würde eine räftige Volskbewegung stehen müssen, die durch eine richtige umfassende vorbereitende Agitation der Partei in Fluß zu bringen wäre. Bis zu welchen Mitteln diese Aktion der Massen zu gehen hätte, wird sich natürlich nur aus der jeweiligen Situation ergeben können.

Es wird in der letzten Zeit viel über den Massenstreik geredet. Es kommt aber nicht darauf an, mal einen Massenstreik zu haben; er ist kein Zweck, sondern nur Mittel. Mit Recht hat Genossin Luxemburg wiederholt betont, daß ein Massenstreik nur in besonderen Situationen als höchste Steigerung einer sich schon in Fluß befindenden Aktion in Frage kommen kann. Worauf es ankommt, ist die Aktion; in jeder politischen Augenblicksfrage, die ein Lebensinteresse des Proletariats berührt, hat die Partei aufzutreten. Nicht in abwartender Untätigkeit die Aktion des Feindes an sich herankommen lassen, sondern furchtlos vorwärtsdringen auf jedem Gebiet, das durch die politische Situation gerade im Mittelpunkt des Kampfes steht; das muß die Taktik sein. Die Frage der Aufrecherhaltung der Wucherzölle steht im kommenden Jahre voran auf der Tagesordnung der deutschen Politik; daher wird der Kampf gegen die Wucherzölle ein wichtiges Thema auf der Tagesordnung des Würzburger Parteitages sein müssen.


Compiled by Vico, 14 January 2021