Home | Contact | Links       
Antonie Pannekoek Archives

Pressedienst

Quelle: a.a.a.p.


Pressedienst

Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland) : p.i.k.: Pressedienst der Internationalen Kommunisten-Holland, 1928-1933. – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek; €15,80.


Die ökonomische Krise


Quelle:  Pressedienst der g.i.k., Nr. 15, November 1929 (i.i.s.g. ); Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


Amsterdam, November 1929


Nicht ohne Absicht setzen wir als Überschrift die „ökonomische“ und nicht „finanzielle“ oder „Börsenkrise“. Denn wenn man jetzt spricht über eine finanzielle oder Börsen-Krise, so beweist das, dass man die ungeheure Debakel-Bewegung, die in allen wichtigen finanziellen Zentren angefangen hat, nur als auf die finanzielle Welt beschränkt ansieht. In dieser komplizierten Welt ist kein Ding ohne wechselseitige Beziehungen. Die Krisenerscheinungen, die sich offenbaren in den starken Kursverlusten nahezu aller Effekten, können heute noch weniger denn früher als nur zum Gebiet der Effekten-Spekulation gehörend betrachtet werden. Die Krisenerscheinungen sind nur zum Teil auf vorhergehende spekulative Tendenzen zurückzuführen, und in ihrer Folge sind sie ganz und gar nicht beschränkt auf die Welt der großen und kleinen Spekulanten. Wir werden daher in diesem kurzen Aufsatz noch zu besprechen haben:

1. Die Ursachen der Krise
2. Der Umfang der Krise
3. Die unmittelbare Krisenfolge oder das Weiterwachsen derselben.

Die Behandlung der Fragen, denen wir auf diesem Gebiete unter 1. und 3. begegnen, veranlasst uns, von einer ökonomischen Krise zu sprechen.

Die Ursachen der heutigen Krisenerscheinungen, die in diesem Augenblick noch auf die Börsen beschränkt sind, aber nur warten auf den Verlauf der Zeit, um sich in Industrie, Handel, Schifffahrt usw. zu offenbaren, liegen auf zweierlei Gebiet. Die erste Veranlassung ist der Geldmarkt nach dem Kriege, die zweite die industriell technische und damit parallel gehende organisatorische Entwicklung. Beide, Geldmarkt und Industrie, stehen nicht lose nebeneinander, was sich genügend zeigen wird.

Die Lage des Geldmarktes kennzeichnete sich durch einen Überfluss an Geld, das „zu jedem Preis“ Anlage suchte. Wenn wir über den Geldmarkt sprechen, dann denken wir an jene drei Zentren, welche momentan die Welt finanziell beherrschen: New York, London und Amsterdam, die jede für sich – durch spezielle Ursachen – über große Menge Geldes zu verfügen haben. Amerika: Kurz gesagt durch Kriegsgewinn, England durch alte koloniale Reichtümer und Holland durch Kriegsgewinn und koloniale Profite. Ohne weiter über den Umfang der dort zur Verfügung stehenden Geldkapitale zu sprechen, können wir uns heute auf eine Skizze ihrer Wirkung beschränken.

Kapital, das keine Anlage findet, ist für den Kapitalisten ein Gräuel. Nicht nur, dass man von dem Kapital erwartet, dass es sich rentieren wird; wenn die Sache gesund sein soll, dann muss das Kapital sich selbst auch wiederherstellen, reproduzieren, will es sich auf ursprünglichem Niveau behaupten. Angewandtes Kapital (Maschinen usw.), das nicht benutzt wird, also nicht rentiert, kostet Rente, wird also kleiner, abgesehen davon, dass das Veralten der Maschine die Bedeutung eines Prozesses von noch schnellerer Entwertung hat. Geldkapital, das keine Anlage findet, wird aus selbem Grund weniger, nicht nur, dass sein Eigentümer etwas davon braucht zum Leben, so dass das Grundkapital kleiner wird; auch hier hat die bloße Tatsache, dass die Zeit verrinnt, eine (Geld)-Entwertung zur Folge.

Alles dies ist klar und logisch, und deshalb ist es selbstverständlich, dass der Kapitalist für sein Geld Anlage sucht. Auch wenn diese Anlage vernünftigerweise nicht möglich ist. Dann erzwingt man eine Anlage. Wie erzwungen die Kapitalanlage werden kann und geworden ist, zeigt eine Berechnung von Irving Fisher (*), der im September kalkuliert hat, dass das „Rendement“ (Verzinsung) der führenden amerikanischen industriellen Effekten im letzten Jahre nur zweieinhalb 2½ bis 3% betragen hat, ein „Rendement“ also, das weit unter dem allgemeingültigen Durchschnitt liegt und das trotzdem akzeptiert worden ist. Wir könnten uns damit begnügen zu sagen, dass nur die Ausdehnung des Geldes hiervon die Ursache ist, ohne eine allzu große Unrichtigkeit zu verkünden. Um das Bild zu vervollständigen und auch um dafür eine Erklärung zu finden, warum im Hinblick auf den großen Umsatz auf den Börsen dieses „Rendement“ noch gerne akzeptiert wird, müssen wir den spekulativen Charakter, womit die ganze Anlagebewegung in dieser spätkapitalistischen Epoche in sehr starkem Maße behaftet ist, behandeln.

Woher dieser spekulative Charakter? Spekulation ist, wenigstens für den, der damit beschäftigt ist, doch noch immer etwas besser, von mehr Bedeutung als nur bloßes Hasardspiel. Seine Zuversicht auf den einen oder anderen unerwarteten Vorteil, wie grundlos dies für viele auch sein mag, ist für den Spekulanten niemals ganz ohne Grund. Was ist denn, neben dem geringen „Rendement“, für alle jetzt düpierten Anleger die Sicherheit gewesen?

Diese spekulativen „Sicherheiten“ bestanden aus einer ganz unbegründeten Hoffnung auf die Zukunft. Unbegründet für jeden, der die Anlageobjekte, Industrie, Verkehr usw., in ihrer heutigen Konstellation kennt, begründet nur für denjenigen, der sich nur leiten lässt von den äußerlichen Ereignissen.

Diese äußerlichen Ereignisse zeigen ein Bild von industrieller Lebhaftigkeit. Deutschland zum Beispiel verbessert seine Handelsbilanz, wie man das nennt; seine Ausfuhr steigt allmählich, seine Einfuhr wird immer kleiner. Das sieht nach Lebhaftigkeit aus, aber wenn man weiß, dass Deutschland zu arm ist, um einkaufen zu können, dann wird das Aufblühen von Deutschlands Industrie ein wenig verdächtig. Große industrielle Betriebe, Welt-Betriebe in Amerika, England, Italien, Frankreich, Belgien, Holland usw.: Kunstseide-, Automobil-, Erdöl-, Glühlampen-, Bergwerks-, Transportgesellschaften gründen überall neue und ausländische Betriebe. Sie fassen festen Fuß hier und breiten sich dort aus, vergrößern, modernisieren und rationalisieren ihre Betriebe, und wer als harmloser Bürger, auch wenn er über Kapital verfügt, dazwischen steht, kann leicht denken, dass die Landschaft mit goldenen Bergen besät ist.

Holländische Anleger bezahlten 900% und mehr für Philips-Aktien, nur weil man dachte, dass die deutschen Interessen dieser Unternehmung und die amerikanischen und englischen Geschäftsverbindungen vorteilhaft wären, während all diese Sachen nur ihren Grund darin fanden, dass Philips auf diese Weise seine Existenz zu behaupten trachtete. Der Kampf um die Existenz im Konkurrenzkampf.

Die holländische Kunstseide-Industrie gründete Fabriken in Amerika und die Aktien steigen wie Luftballone. Man denkt, dass diese Fabriken erbaut werden, um der größeren Nachfrage, die zu erwarten sei und sicher kommen wird, gerecht zu werden, während der einzige und wirkliche Grund für diese Maßnahme ist, den Anteil an der Kunstseide-Nachfrage zu behalten oder so wenig wie möglich verkleinern zu lassen. Dieser Produktionsabbau bei gleichbleibender oder nicht so schnell wie die Produktivität steigender Nachfrage, hat also, im Gegensatz zu den Profitmöglichkeiten, welche die Anleger erwarten und worauf ihre Spekulation gerichtet ist, eine Senkung der Profitrate zur Folge. Die Anleger verdiskontieren in den Preis der Aktien Zukunftsprofit, welcher ausbleibt, während in Wirklichkeit die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus zu einer ständig sinkenden Profitrate führt. Hier liegen die Gründe der kapitalistischen Krisenerscheinungen, wie diese auch zu Tage treten mögen. Der Kapitalismus überwindet wohl noch die Exzesse in dieser Krise, aber die Tatsache der sinkenden Profitrate wird sein Untergang sein, weil die technische und ökonomische Entwicklung, so wie sie jetzt geht, sich nicht umbiegen lässt.

Vor einem Jahr haben wir in einem Aufsatz über die Taktik der Gewerkschaften gezeigt, dass das „Rendement“ der deutschen Unternehmungen verglichen mit der Vorkriegszeit absolut stark, relativ noch stärker gesunken war. Die Ziffern, dort angewandt, können als Beweis dafür dienen, dass die Profitrate sinkt, dass also die Grundlage für die kapitalistischen Krisen vorhanden ist und auch wohl dauernd bleiben wird. Aber niemand braucht hierdurch überzeugt zu sein. Es gibt andere Ziffern, deutsche vielleicht, holländische bestimmt und amerikanische sehr bestimmt, die zeigen, dass die Dividenden von einer Anzahl industrieller Unternehmungen gestiegen sind. Nun müssen wir hier natürlich das „Rendement“ nicht mit Dividende verwechseln, denn alle großen Dividenden in Amerika haben das durchschnittliche „Rendement“ doch nur auf höchstens 5% gebracht. Nun kann man zwar sagen, dass das eine Folge der spekulativen Tendenzen war, die die Kurse so hochgetrieben haben, aber dass die Betriebe an Unternehmungsgewinnen, verglichen mit zum Beispiel dem nominalen Aktienkapital, doch eine absolut höhere Ziffer gebracht haben. Was hat dann unsere Behauptung von der sinkenden Profitrate noch zu bedeuten? Es wird nicht so schwierig sein, diesen scheinbaren Widerspruch aufzudecken.

Die Kurssteigerung bis zum Debakel-Höhepunkt hat einige Unterbrechungen gehabt. In Amerika seit der Krise von 1921 im Jahre 1923, im Frühjahr 1925, im Frühjahr 1926, im Dezember 1928 und im Mai dieses Jahres, welche Unterbrechungen begleitet wurden von zeitlichen Kurssenkungen. Nun ist eine sehr einfache und vielfach angewandte finanzielle Maßnahme der Unternehmungen, wenn die Kurse sinken, die eigenen Aktien zu kaufen, wodurch wieder eine Kurssteigerung entsteht, welche man ausbeutet, um die Aktien wieder mit Profit zu verkaufen. Auf diese Weise ist es möglich, einen höheren Unternehmungsgewinn zu notieren. Aber das steht in gar keiner Beziehung zu dem Betriebsgewinn. Obendrein bezahlt der Effektenmarkt, der, angetrieben durch diese hohen Dividenden, wieder anfängt, in den betreffenden Aktien zu spekulieren, selbst dasjenige, was auf den Betriebsprofit zugesetzt ist. (Hierbei muss zwar bemerkt werden, dass es allerdings Unternehmungen gibt, die mit ihrem individuellen „Rendement“ über dem durchschnittlichen, von den Börsen bestimmten „Rendement“ emporsteigen, aber in den meisten Fällen ist doch auch bei ihnen die Tendenz der sinkenden Profitrate merkbar.)

Das Thema der sinkenden Profitrate ist in Beziehung zu der kapitalistischen Krise so wichtig, dass es notwendig macht, noch mehr darüber zu sagen. Wir werden einmal die Sache von der Seite des Betriebes aus ansehen und auch so zeigen, warum die Profitrate sinken muss.

Was heute in einem industriellen Unternehmen am stärksten ins Auge fällt, ist das sich ändernde Verhältnis zwischen dem konstanten und dem variablen Kapital.

Der Zwang für die heutigen industriellen Unternehmungen, „up to date“ zu bleiben, um konkurrenzfähig zu sein, zwingt sie, technisch immer das Neueste, das Produktionsfähigste in die Betriebe zu stellen. Die technische Neuerung vollzieht sich in immer schnellerem Tempo und dazu noch auf zweierlei Weise. Erstens sind die neueren Maschinen in der Regel von größerer Produktivität und zweitens ist das Ansatzstück, das zu den neuen Maschinen gehört, immer länger; wir meinen die den Arbeiter ersetzende technische Betriebsausrüstung. Aber diese technische und maschinelle Betriebsausrüstung fordert sehr große Kapitale. Dazu kommt noch, dass nicht nur die Konkurrenz zu immer größerer Produktivität zwingt, sondern dass auch im Betrieb selbst ständig Kräfte anwesend sind, die zu immer größerer Ausdehnung zwingen. Das alles hat zur Folge, dass das konstante Kapital, in Boden, Gebäuden, Maschinen usw. angelegt, fortlaufend und sehr stark steigt im Vergleich zum variablen Kapital, den Arbeitskosten. Wo die Produktion andauernd steigt, produzieren solche Betriebe fast immer zu viel. Die Stillegung eines Betriebes aber, worin eine solche Menge konstanten Kapitals angelegt ist, hat einen ungeheuren Zinsverlust zur Folge. Man legt denn auch nur im äußersten Falle still und ermäßigt den Preis des Produktes so viel wie möglich. Aber hierdurch wird es nicht besser. Die heutigen industriellen Betriebe sind der Sklave ihres konstanten Kapitals. Sie arbeiten mit einem ständig sinkenden Profit. Das dauert so lange, bis die Krise einsetzt.

Auch diese Ursachen haben, neben der Spekulation, zum Losbrechen der Krise beigetragen. Der spekulative Optimismus fing an zu wanken, als allmählich klar wurde, dass die Industrie nicht imstande war, die hochgesteckten Erwartungen zu verwirklichen. Aber während die spekulative Seite, wenn man das so schon will, doch immer eine Sache von Unverstand ist, (das ist sie natürlich nicht ganz und gar, die anlagesuchenden Kapitale haben gewiss ihre zwingende ökonomische Macht, und suggestive Einflüsse sind hier auch nicht fremd), ist die Ursache der sinkenden Profitrate ein ökonomisches Gesetz. Dieses Gesetz wird auch in Zukunft wirksam sein, nicht nur als Ursache der zeitlichen Krise, sondern auch die Grundlage bilden für das Zusammenbrechen des kapitalistischen Systems.

Über den Umfang der Krise, finanziell betrachtet, brauchen wir nicht viel zu sagen. Die Zeitungen meldeten schon, dass die Kurse in wenigen Tagen Hunderte Prozente fielen, in New York beläuft der „Verlust“ sich auf viele Milliarden. In Amsterdam „verlor“ man in 12 führenden Industrie-Aktien die Bagatelle von 441 Millionen Gulden. Weder die Krise von 1907 noch die der Nachkriegszeit zeigen solch eine schleunige Abtakelung der Aktienwerte.

Wie wird die Krise sich fortsetzen? Was werden die unmittelbaren Krisenfolgen sein?

Viele Fragen sind hier zu beantworten. Wird der augenblickliche Preisverfall in Amerika – den wir hier als Beispiel nehmen, weil die Gegensätze hier am größten sind – eine Senkung des Einkommens eines großen Teils der kaufkräftigen Bevölkerung zur Folge haben? Die Antwort ist: ohne Zweifel ja, denn viele Personen, die nicht unmittelbar in Beziehung zu den Spekulationen stehen, fühlen doch die Folge durch die nun einsetzende Liquidation vieler Unternehmungen. In den Vereinigten Staaten greift die Krise schnell um sich. Man sagt, dass die Zeitungen in ihren Annoncen ein wahres Krisenbild zeigen durch die Unmenge von Landhäusern, Automobilen, Wertsachen usw., die plötzlich zum Verkauf angeboten werden. Das ist mehr als nur eine bloße Anekdote. Denn wieviel von diesen Landhäusern, Automobilen, Wertsachen usw. sind nicht in Teilzahlung gekauft, und wie viele Leute sind nicht schuldig für Teilzahlung, und in welchem Maße wird die Krise die Teilzahlungsgeschäfte beschränken? Die Krise bedeutet für den Detailhandel nichts weniger als eine Katastrophe. Aber auch die Industrie, die nur oder zum größten Teil für die Termingeschäfte produzieren: Automobile, Radio, alle Luxusindustrien, müssen ihre Produktion senken. Also auch eine industrielle Krise, die wieder in einem weiteren Kursverlust Ausdruck finden wird. Aber nicht nur die Luxusindustrie, auch die Eisenindustrie, die Kautschukproduzenten und eine Unmenge anderer fühlen den Rückschlag durch die Krise. Die Krise greift um sich, hier in Amerika, in allen industriellen Zentren der Welt, mit sich ausbreitender Arbeitslosigkeit und weiteren Krisenerscheinungen.

Die Welt steht in den ersten Tagen einer großen ökonomischen Katastrophe. Die Arbeiterklasse wird – wie immer – die Zeche bezahlen müssen. Wie lange noch wird das Proletariat sich irre führen lassen von den friedliebenden Gewerkschaften. Es ist höchste Zeit, dass das Proletariat die Sache klar einsieht. Dass es wach wird, dem einstürzenden Kapitalismus die letzten Stützen zu entnehmen und mittels der revolutionären Betriebsorganisation die Produktion in eigene Hände nimmt.


Redaktionelle Anmerkungen

*) Irving Fisher  (1867-1947) war ein US-amerikanischer Ökonom. „Wenige Tage vor dem Börsenkrach machte Fisher – der auch ein Unterstützer des damaligen Präsidenten Herbert Hoover war – seine berühmte Aussage, dass ‚Aktienkurse ein – wie es scheint – dauerhaft hohes Niveau erreicht haben.‘ Selbst in den Monaten nach dem Börsencrash fuhr er fort, Investoren zu versichern, dass eine Erholung bald kommen würde.“


Compiled by Vico, 21 August 2021