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Antonie Pannekoek Archives

Rätekorrespondenz

Quelle: a.a.a.p.


Rätekorrespondenz

Internationale Rätekorrespondenz 1934-1937 / Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland). – Transkribiert und herausgegeben für Rätekommunismus ; Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek, Dezember 2020, 504 S., € 13,16, ISBN 979-8551636052


Bemerkungen über die Arbeiterbewegung in Deutschland


Quelle:  Bemerkungen über die Arbeiterbewegung in Deutschland. – In: Internationale Rätekorrespondenz : Theoretisches und Diskussionsorgan für die Rätebewegung.  – Ausg[abe]. der Gruppe Int[ernationaler]. Kommunisten, Holland. – 1935, Nr. 7 (Januar [=Februar]); Quelle der Transkription: Rätekommunismus , 23. November 2020, Mitarbeit von der Association Archives Antonie Pannekoek.


Es ist dem Naziterror in Deutschland bisher noch nicht gelungen, die alte Arbeiterbewegung zu vernichten. Alle verschiedenen Schattierungen, s.p.d., k.p.d., s.a.p., k.p.o., Unionsbewegung, sie sind alle noch da und alle arbeiten noch. Und es muss gesagt werden, s.p.d. und k.p.d. entfalten in letzter Zeit eine größere Aktivität als noch vor einem halben Jahr möglich war. Diese größere Bewegungsmöglichkeit entsteht einerseits, weil man sich in den illegalen Zustand besser eingefunden hat, und andererseits, weil bei großen Massen eine gewisse Enttäuschung eingetreten ist, da der Nationalsozialismus nicht gebracht hat, was er versprochen hat. Allerdings bedeutet das nicht, dass die Massen sich gegen den Nationalsozialismus wenden, sondern nur, dass sie die Nörgler nicht mehr gleich denunzieren. Da ist also von einer „Kampfstimmung“ gegen das heutige Regime noch nichts zu bemerken, und Berichte über Streiks und ähnlichen Aktionen, die wir häufig in der Presse der alten Arbeiterbewegung finden, sind nur das Ergebnis frommer Wünsche.

Wenn es auch richtig ist, dass s.p.d. und k.p.d. momentan eine größere Aktivität entfalten, so ist dabei doch auch zu bemerken, dass in der Mitgliedschaft Umwandlungen vor sich gehen. So hat es die k.p.d.-Arbeiter sehr enttäuscht, dass Russland und die III. Internationale keinen Finger gekrümmt haben, um der Machtergreifung durch Hitler vorzubeugen und sie auch später völlig im Stich gelassen haben. Und in der s.p.d. geschieht etwas Derartiges. Hier fühlt man sich von den früheren Parteigrößen verraten, und darum hat man den „Parteivorstand“ in Prag „kaltgestellt“. Von dem sogenannten illegalen Material des Parteivorstandes, das in Deutschland hinein geschmuggelt werden muss, kommt darum fast nichts hinüber, denn niemand will es über die Grenze schaffen. Die alte s.p.d. ist darum endgültig erledigt. Mit der k.p.d. geht es nicht viel anders. Zwar behält der Parteivorstand unbestritten seine Stellung (Es gibt gar keine Möglichkeit, die wegzunehmen.), aber die Mitgliedschaft wird zugänglich für Kritik, sie tritt in Diskussion mit anderen Arbeitern über die Russlandfrage, die III. Internationale und Auffassungen über Taktik. Das aber ist für die k.p.d. ein heikler Punkt.

Es liegt auf der Hand, dass der Zusammenbruch der s.p.d. und k.p.d. nicht nur als ein organisatorischer Zusammenbruch gefühlt wird, sondern auch als ein Fehlschlagen der Taktik. Daher kommt es an verschiedenen Orten zu Neubildungen, die Ausgangspunkt einer neuen Arbeiterbewegung meinen zu sein. Von einer gemeinschaftlichen Auffassung der heutigen Probleme kann bei all diesen Gruppierungen keine Rede sein, wo das Abhalten von Versammlungen von vornherein ausgeschlossen ist. Wir nennen hier nur die sehr stark verbreitete „Miles Gruppe“ (s.p.d.-Ableger), die Gruppe um den „Proletarischen Pressedienst“ (wie oben) und eine Menge von Gruppierungen, die keinen Namen führen, aber vervielfältigtes Material herausgeben ohne nähere Quellenangaben.

Doch können die heutigen Gruppierungen, hervorgegangen aus der alten Arbeiterbewegung, keine Grundlage für eine neue Bewegung abgeben, weil sie noch zu viel mit den alten Muttermalen behaftet sind. Das zeigt sich nicht in erster Linie an dem, was in diesem Material gesagt wird, sondern vielmehr an dem, was man nicht darin findet. Es ist ziemlich leicht, den Charakter dieses Materials festzustellen, denn die Gedankenwelt der alten Arbeiterbewegung geht unzweideutig daraus hervor. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Betrachtungen nicht wissens- oder lesenswert sind oder als Orientierungsmaterial unbrauchbar wären, sondern nur, dass man sich in der Hauptsache noch in demselben Problemkreis bewegt wie früher. Aber gerade weil der Zusammenbruch der alten Arbeiterbewegung nicht an erster Stelle ein organisatorischer, sondern vielmehr ein ideologischer Zusammenbruch ist, braucht eine neue Arbeiterbewegung vor allem eine Neugestaltung der Ansichten über Aufgaben und Zielsetzung der Arbeiterbewegung.

Bei der Beurteilung, in wie weit Ansätze für eine neue Arbeiterbewegung vorhanden sind, legen wir einen bestimmten Maßstab an. Es handelt sich dabei um das Verhältnis der „Bewegung der Arbeiter“ zu der neuen „Arbeiterbewegung“. Früher war zwischen beiden so gut wie kein Unterschied. Die Bewegungen waren verhältnismäßig klein und auf bestimmte Gruppen begrenzt. Es handelte sich um Streiks der Hafenarbeiter, Metallarbeiter, Verkehrsbeamten usw. Die Arbeiterbewegung im Besonderen, die Gewerkschaftsbewegung, hatte dabei die Führung, und damit fiel Bewegung der Arbeiter mit der „Arbeiterbewegung“ zusammen. In Zukunft wird das immer weniger der Fall sein. Die Wirtschaftskämpfe werden als politische Machtkämpfe ausgefochten, sie überschreiten die Berufsfront und werden zu einer Klassenfront. Es können nur Massenkämpfe sein, oder sie werden nicht sein. Worauf es hier ankommt ist, dass diese Massen nur ihr eigener Führer sein können: Die Bewegung der Arbeiter fällt nicht mehr mit der Arbeiterbewegung zusammen; die Arbeiterbewegung kann nicht mehr Führer der Bewegung der Arbeiter sein.

Gerade in diesem Punkt scheitern die Neubildungen der heutigen deutschen Arbeiterbewegung. Fast alle wollen die zukünftige „revolutionäre Partei“ werden, welche die Führung des Proletariats übernimmt und die Bewegung der Arbeiter sich unterordnet. Das hätte an sich nicht viel zu bedeuten, denn die Bewegung der Arbeiter schreitet über diese Arbeiterbewegung hinweg. Aber es zeigt sich dadurch doch, dass diese, in der Arbeiterbewegung organisierten revolutionären Arbeiter, ihr Verhältnis zur Klasse nicht finden können. An diesem Problem scheitern momentan fast alle Neubildungen. Sie sind darum nicht als die Ausstrahlungspunkte einer neuen Bewegung zu betrachten, sondern sie bilden vielmehr die Erscheinungsformen, worin die alte Bewegung völlig zusammenbricht. Es sind die Trümmerhaufen des Alten, anstatt Aufbau des Neuen.

In der alten Unionsbewegung war man schon vor der faschistischen Machtergreifung in der Problemstellung über die „Bewegung der Arbeiter“ viel weiter fortgeschritten. Auch hiervon sind noch Reste im Leben. Doch zeigte sich sehr bald, dass auch diese Bewegung untergehen musste. In der vom Faschismus neugeschaffenen Lage glaubten sie ihre organisatorische Schwäche beheben zu können durch „Einheitsbestrebungen“ mit den Resten der alten Arbeiterbewegung der k.a.p., s.a.p. und oppositionellen k.p.d.-isten. Der Aufbau einer neuen Organisation stand im Mittelpunkt ihrer illegalen Tätigkeit. Die Organisation sollte die Werbungsfahne einer neuen Arbeiterbewegung sein. Das war grundfalsch und konnte nur enden in dem Zusammenbruch der schwachen Unionsbewegung.

Eine neue Arbeiterbewegung muss ausgehen von der Überzeugung, dass es sich in Wirklichkeit nicht handelt um den Aufbau einer „mächtigen“ Arbeiterbewegung, sondern um die Entfaltung der „Selbstbewegung“ der Klasse, um die Bewegung der Arbeiter selbst. In der alten Arbeiterbewegung war die Masse ein Werkzeug in den Händen der Organisationen. Große, mächtige Organisationen, die im Stande waren, die Masse zu dirigieren, wurden damit zum Brennpunkt [?] der Arbeiterpolitik. Jetzt handelt es sich darum, dass die Masse als Einheit auftreten und alle Funktionen, die aus der Praxis des Kampfes entspringen, selbst ausüben. Die Machtverhältnisse schweißen die Massen dabei in Kampfeinheiten zusammen. Durch die Machtverhältnisse erweitert sich die jetzt herrschende Gruppensolidarität zur Klassensolidarität.

Die revolutionären Gruppierungen können keine andere Aufgabe haben, als durch schriftliche und mündliche Propaganda die klassenmäßigen Erfahrungen bei den Massen bewusst zu machen, indem sie diese durch die Theorie durchleuchten. Das ist keine Bücherweisheit, sondern die kollektive Zusammenarbeit revolutionärer Arbeiter, wie die heutige Praxis das schon zeigt. Das Herausschälen der neuen „Wahrheiten“ und ihre Verbreitung, das ist die sehr gefährliche illegale Arbeit der Gruppierungen. In dieser Arbeit entwickelt sich ein erstaunlicher „Heroismus“, wie er in Deutschland täglich zu beobachten ist.

Eine neue Arbeiterbewegung kann erst wirklich Kraft entfalten, d.h. sie kann bei den Massen erst revolutionäre Kräfte auslösen, wenn sie eine wirklich kommunistische Zielsetzung in die Massen pflanzt. Große, umfassende Weltanschauungen wie die nationalsozialistische kann man nur bekämpfen durch den vollen Angriff auf das ganze System. Dem Führerprinzip kann man nur entgegentreten durch die Forderung der Selbstbestimmung der Massen, durch die Ausübung aller Funktionen durch die Massen selbst. Den faschistischen Ständestaat kann eine revolutionäre Bewegung nur bekämpfen durch die Forderung der Aufhebung der „Stände“, durch die Forderung der gleichen Verteilung des gesellschaftlichen Arbeitsertrages. Der nationalsozialistischen, sozialdemokratischen und bolschewistischen staatlichen Wirtschaftsgestaltung kann eine neue Arbeiterbewegung nur entgegentreten durch die Forderung nach Aufhebung der Lohnarbeit, durch die Propaganda für die Association der freien und gleichen Produzenten, deren planmäßige Wirtschaft die gesellschaftlich-durchschnittliche Arbeitsstunde zur Grundlage hat.

Die Richtschnur für eine neue Arbeiterbewegung besteht also darin, dass

I. Die neue Arbeiterbewegung keine organisatorische Macht für sich über die Massen erstrebt. Sie will nur die Entfaltung der Klassenkräfte in der Bewegung der Arbeiter, die sich in Massenaktionen manifestiert. Es ist dabei Aufgabe der neuen Arbeiterbewegung, diese Massenaktionen zur „Selbstorganisierung“ zu bringen (Rätebildung).

II. Die neue Arbeiterbewegung muss gegenüber der alten Arbeiterbewegung und dem Nationalsozialismus eine neue Gesellschaftsanschauung stellen, die gekennzeichnet wird durch die Ablehnung der Staatswirtschaft einerseits und die Aufhebung der Lohnarbeit andererseits.

Von diesem Gesichtswinkel aus ist von einer neuen Arbeiterbewegung noch nicht viel zu sehen. Ganz abgesehen von den neuen Gruppierungen, die aus der alten Sozialdemokratie und dem Bolschewismus hervorgegangen sind, zeigt auch die frühere Unionsbewegung noch keine Ansätze für eine solche Neugestaltung. Zwar sind hier die Ansichten in Bezug auf die „Selbstbewegung“ der Massen so ziemlich geklärt, aber man ist nicht so weit, dass man der alten Arbeiterbewegung eine andere Gesellschaftsauffassung gegenüber zu stellen weiß. Das heißt aber, dass man sich über die Aufgaben einer kommunistischen Revolution nicht im Klaren ist! Das ist auch die Erklärung dafür, dass man durch den Ausbau der Organisation zum Ziel zu gelangen sucht.

Es muss festgestellt werden, dass sehr viele revolutionäre Arbeiter, die auch jetzt noch jeden Tag bei der illegalen Arbeit ihren Kopf aufs Spiel setzen, den neuen Aufgaben nicht gewachsen sind und darum auch allem Anschein nach nicht zum Fundament für die neue Bewegung werden können. Sie haben sich festgebissen in den „Kampf gegen Hitler“ und sind wahrscheinlich nicht mehr im Stande, sich umzustellen. Die neue Bewegung wird aufgebaut werden von neuen, jungen, unverbrauchten Kräften. Der erste Ansatz dazu ist schon da; im Herbst 1934 stellten „Revolutionäre Obleute“ in Deutschland ein „Programm“ zur Diskussion, das zur Grundlage einer neuen Arbeiterbewegung werden kann, wenn auch verschiedene Unzulänglichkeiten – wenigstens unserer Meinung nach – darin enthalten sind. In der nächsten Nummer der Rätekorrespondenz werden wir dieses Programm zum Abdruck bringen und auch weiterhin darauf eingehen.


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Compiled by Vico, 1 December 2020